Helden in schwatzgelb

Der Letzte seiner Art

13.05.2022, 16:39 Uhr von:  Malte S.
Marcel Schmelzer steht auf dem Rasen des Westfalenstadions, hebt beide Arme und schaut dankbar in Richtung Publikum.
Der BVB hat Marcel Schmelzer viel zu verdanken – und umgekehrt

Marcel Schmelzer hat Borussia Dortmund auf und neben dem Platz viel gegeben. Und er steht für etwas, das den Verein einst stark gemacht hat, doch längst auf der Strecke geblieben ist: Ein Team, das größer ist als die Summe seiner Spieler. Nun beendet er seine Karriere.

Vor wenigen Tagen gab's noch einmal was fürs Herz: Der türkische Erstligist Antalyaspor verbreitete ein Foto von Nuri Şahin und Marcel Schmelzer. Şahin, seit Oktober Teamchef des Klubs, hatte seinen einstigen Mitspieler eingeladen, beim Training zu hospitieren. Das Bild der beiden Freunde, die sich in der Jugend des BVB kennenlernten, dieselbe Klasse besuchten und später gemeinsam Deutscher Meister wurden, weckte bei vielen Boruss*innen wohlige Erinnerungen. Nur ein Vorgeschmack auf das, was uns erwartet, wenn Schmelle am Samstag von der Gelben Wand verabschiedet wird.

Hinter dem gebürtigen Magdeburger wird dann ein halbes Leben lang Borussia Dortmund liegen. Mit 17 schließt er sich der U19 an. Damals, im Sommer 2005, ist es erst wenige Monate her, dass der BVB die Insolvenz abwenden konnte. Wenige Jahre später wird Schmelzer maßgeblich am Wiederaufbau beteiligt sein. Vielleicht ist es sein Glück, dass er in einer Zeit zum Verein stößt, in der dieser gar nicht anders kann, als aus der wirtschaftlichen Not eine Tugend zu machen und auf junge Spieler zu setzen. Nachdem er Publikumsliebling Dedê, dessen Kreuzbandriss ihm am ersten Spieltag der Saison 2008/09 sein Bundesligadebüt beschert, nach und nach den Rang abgelaufen hat, spielt der Linksverteidiger eine wichtige Rolle im System von Jürgen Klopp. Zwar nie ein besonders guter Einzelkönner, dafür aber ein umso besserer Mannschaftsspieler.

Ein Musterschüler Jürgen Klopps

„Schmelzer ist ein Pressingverteidiger“, beschreibt ihn Martin Rafelt in seinem Buch „Vollgasfußball“, in dem er Klopps Fußballphilosophie unter die Lupe nimmt. Laufstärke, Balleroberung und Antizipation sind Schmelles Stärken. Im intensiven Gegenpressing übernimmt er außerdem viele unterstützende Aufgaben – auch solche, die vielleicht nicht auf den ersten Blick erkennbar sind –, sodass Rafelt ihn als einen Musterschüler von Jürgen Klopp adelt, „weil dessen Fußball auf mannschaftlicher Geschlossenheit, taktischen Fähigkeiten und gegenseitiger Unterstützung basiert“.

Jürgen Klopp lacht und klatscht nach einem Spiel der Saison 2011/12 Marcel Schmelzer ab

Mit dieser Idee stürmt der BVB nicht nur zu Meisterschaft und Doublesieg. Er begeistert seine Fans auch mit einer Mannschaft, die größer ist als die Summe ihrer Spieler. Es ist eine Philosophie, die den Verein einst stark gemacht hat, der er aber nun schon seit einigen Jahren nur noch hinterherrennt. Schmelle ist, neben Kevin Großkreutz oder Sven Bender, ein Symbol für diese Zeit. Und er ist der letzte Spieler im Kader des BVB, der den Weg seit 2008 ununterbrochen mitgegangen ist, mit allen Höhen und Tiefen. Das macht seinen Abschied umso trauriger. Vor allem für all jene Fans, deren Identifikation mit dem Profifußball in den vergangenen Jahren gelitten hat.

Auch wenn Marcel Schmelzer aufgrund seiner Verletzungen nun schon lange keine sportliche Rolle mehr spielt, ist seine Karriere doch ein Gegenentwurf zu manchen Auswüchsen des Geschäfts, die sich in Dortmund zuletzt im Rummel um Erling Haaland offenbart haben. Den Typ Karriereplaner, für den der BVB von Anfang an ein Sprungbrett ist, das es nach höchstens zwei Jahren wieder zu verlassen gilt, haben die meisten Fans einfach satt. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Schmelle und „Öööörling“ am Samstag parallel verabschiedet werden.

Schmelle lernt früh, was der BVB den Menschen bedeutet

Nun muss man fairerweise sagen, dass auch Schmelle nicht den Plan gehabt haben wird, seine ganze Sportlerkarriere hingebungsvoll dem BVB zu widmen, als er als Jugendlicher nach Dortmund kam. Doch er bekam die Chance, Stadt und Verein kennenzulernen – und nahm sie dankend an.

Schmelzer zieht 2005 ins Jugendhaus des BVB und besucht ein Berufskolleg in der Innenstadt. Was Borussia hier bedeutet, erfährt er über seine Klassenkameraden und Freunde. Mit einem versteht er sich so gut, dass er auf Familienfeste eingeladen wird. „Da habe ich gemerkt, dass einfach alle so positiv verstrahlt nach Borussia sind, egal ob Opa, Oma oder die kleinen Kinder.“ Und er beginnt, den Ruhrpott zu mögen. „Was ich von Anfang an mochte, war diese Direktheit der Leute im Ruhrpott. Die sagen dir, was sie von dir halten, und überspielen das nicht mit Freundlichkeit“, erzählt er uns, als wir ihn 2016 treffen, um ihn in unserer bodo-Sonderausgabe zu porträtieren.

Es ist kein Zufall, dass wir die Titelstory damals ausgerechnet über unsere Nummer 29 schreiben möchten. Der Verein befindet sich mitten in einem Umbruch. Jürgen Klopp, zwischen 2008 und 2015 Gesicht und Stimme des Vereins, ist seit wenigen Monaten weg. Schwarz-Gelb muss sich komplett neu aufstellen. Marcel Schmelzer kommt dabei eine besondere Rolle zu, denn mit seinem Werdegang beim BVB und seiner sympathischen, ruhigen Art ist er nicht nur für viele Fans in dieser Zeit ein wichtiger Anker. Und: Schmelle entscheidet sich ganz bewusst dafür, mehr Verantwortung zu übernehmen. Zu diesem Zeitpunkt ist er 28 Jahre alt und möchte vor allem für junge Spieler ein Ansprechpartner sein. Mitglied des Mannschaftsrats ist er bereits. Während unseres Gesprächs auf dem Trainingsgelände haben wir das Gefühl, dass Borussia Dortmund für Schmelle nach elf Jahren eine Heimat geworden ist. Und dass er Bock auf mehr hat.

In engem Austausch mit der Fanszene

Im Sommer 2016 beerbt er Mats Hummels als Kapitän. Der Innenverteidiger zieht einen Wechsel nach München vor. Schmelle hingegen entscheidet sich, den voraussichtlich letzten großen Vertrag seiner Karriere in Dortmund zu unterschreiben, und verlängert bis 2021. Seine Aufgaben im neuen Amt sieht er nicht nur auf dem Platz. Er pflegt einen engen Austausch mit Mitgliedern der Fanszene. Gibt es wichtige Anliegen wie etwa Protestaktionen, ist er stets greifbar und hört zu. Beide Seiten beschreiben den Austausch als vertrauensvoll und auf Augenhöhe. Auch für gegenseitige Kritik ist Platz, schließlich ist auch die Mannschaft nicht immer mit dem Verhalten der Anhänger*innen einverstanden. Schmelle wird von den Fans respektiert. Auch wenn er auch als Kapitän nie der große Lautsprecher gewesen sein mag, als Bindeglied zwischen Mannschaft und Fanszene war er enorm wichtig.

Marcel Schmelzer klatscht nach dem Auswärtsspiel beim FC Arsenal Fans in der ersten Reihe ab

Während seiner Zeit als Spielführer wird die Luft jedoch rauer. Das zweite Jahr unter Thomas Tuchel ist vom viel zitierten „Dissens“ zwischen Trainer und Verein geprägt. Und unter Bosz und Stöger bleibt die Mannschaft nicht nur als Kollektiv weit hinter ihren Möglichkeiten. Schmelzer räumt ein, dass es sich auch persönlich um seine schlechteste Saison gehandelt habe. Für einige wird er zum Sündenbock. „Für alles verantwortlich gemacht zu werden, fand ich einfach zu viel und damals wie heute nicht richtig“, erzählt er während des Sommer-Trainingslager 2019 im schwatzgelb.de-Interview. Die Kapitänsbinde gibt er 2018 wieder ab und spricht von einer „anstrengenden“ und „kräftezehrenden“ Zeit, die ganz offensichtlich ihre Spuren hinterlassen hat. Später gibt es sogar vereinzelt Pfiffe gegen ihn.

Dass seine Schwächen in Sachen Technik oder offensiver Durchschlagskraft in Spielsystemen, die anders als der Klopp-Fußball nicht auf Typen wie ihn zugeschnitten sind, deutlich werden, ist nicht von der Hand zu weisen. Im Herbst seiner Karriere wird Marcel Schmelzer so doch noch jemand, der die Gemüter der Fans spaltet, zumindest aus sportlicher Sicht. Nach der Spielzeit 2018/19 möchte er den Verein verlassen und im Ausland neustarten. Der BVB jedoch verweigert ihm die Freigabe, weil man ihn noch brauche. In der Folge kommt er unter Lucien Favre auf sieben Einsätze als Einwechselspieler. Auch Verletzungen machen ihm vermehrt zu schaffen. Als er sich von einer Knie-OP erholt, verlängert der BVB seinen Vertrag im vergangenen Sommer um ein Jahr, damit er seine Reha in Dortmund absolvieren kann. Auf den Fußballplatz wird er trotzdem nicht zurückkehren. Kurz vor dem Spiel gegen Hertha BSC verkündet er endgültig das Ende seiner aktiven Karriere.

Ich habe dem Verein viel zu verdanken, habe ihm aber auch viel gegeben.


Marcel Schmelzer im Interview mit schwatzgelb.de (2019)

Es wäre Marcel Schmelzer so sehr zu wünschen gewesen, wenn er beim BVB noch einmal hätte durchstarten können. Trotz des schleichenden Abgangs, der sich viel zu lange zog, hat er eine eindrucksvolle Karriere in Schwarz-Gelb hingelegt: 450 Spiele, zwei Deutsche Meisterschaften und drei Pokalsiege. Mit seiner leidenschaftlichen Art, Fußball zu spielen, hat er eine der besten Mannschaften in der Geschichte des BVB maßgeblich geprägt. Sein Siegtor 2012 in der Gruppenphase gegen Real Madrid wird unvergessen bleiben, nicht nur weil es ein wichtiges Puzzleteil auf dem Weg ins Finale war, sondern weil es ein ganzes Stadion zum Explodieren brachte. Vielleicht hätte auch sein Treffer im Regen von Reggio Emilia einen größeren Platz in der Geschichte von Borussia Dortmund bekommen, würde der BVB in der Europa League nicht notorisch verkacken.

Marcel Schmelzer ist ein Mensch, der dem Verein auch außerhalb des Platzes viel gegeben hat und der immer für ein ganz besonderes BVB-Gefühl stehen wird. Ein Gefühl, von dem man nicht weiß, ob es in Zukunft noch einmal etwas Vergleichbares geben wird. Wie es für ihn weitergehen wird, hat er noch nicht verraten. Der Job als Trainer scheint ihn zu reizen. Es wäre ein Fest, Schmelle irgendwann in neuer Funktion wieder in Dortmund begrüßen zu dürfen.

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