Warmlaufen

Die Geschichte von Hertha Bärlin

13.10.2016, 14:55 Uhr von:  Redaktion

Es war einmal ein Bär, der hieß Hertha und wohnte im Ligaland. Hertha kam aus einer großen Familie, die Bärlin hieß. Und obwohl er der älteste Bär seiner Bärlin-Familie war und eine ganz besonders große Höhle hatte, fühlte er sich immer ein bisschen weniger geliebt als seine Brüder und Schwestern. Die kleine Uniona fanden alle viel süßer, die Zwillinge Eisbärli und Albärli waren viel erfolgreicher. Er blickte auch neidisch zu anderen Familien, in denen die Erstgeborenen seiner Meinung nach viel besser behandelt wurden. Leo Löwe im Süden und Ferdi Fohlen im Westen hatten ihre eigene Höhle, die ganz alleine ihnen gehörte. Bei Hertha dagegen hatten Mama und Papa Bärlin erst vor kurzem die Miete kräftig erhöht.

So war es natürlich kein Wunder, dass Hertha kein besonders fröhlicher Bär war. Missmutig stapfte er durch das Ligaland und brummte vor sich hin: „Ich werd's allen zeigen. Zeigen werd' ich's denen, jawoll. Ich werde der stärkste und prächtigste Bär, den das Ligaland je gesehen hat." Dazu muss man wissen, dass die Bärlinfamilie sich schon immer für besonders prächtig gehalten hatte und das auch gerne allen anderen Tieren im Land zeigen wollte. Währenddessen rollten dicke Schweißperlen seine Bärenstirn herab. Es war Sommer und weil es Hertha in seinem Fell sehr heiß war, stapfte er zum Flusse Dreisam, der direkt an seiner Höhle vorbei floss. Gerade als er ins Wasser steigen wollte, landete ein Rabe vor ihm im Gras. „Hallo, ich bin Robert. Robert Rabe und wer bis..." – Happs, und weg war der Rabe. Hertha kaute auf Robert herum, während er sich etwas abkühlte. Nicht schlecht, aber um der größte und stärkste Bär zu werden, müsse er noch viel mehr essen, dachte er bei sich.

Nach dem Bad wollte Hertha noch etwas in der Sonne faulenzen und er legte sich auf die Felsen. Er döste. Eine Stunde, zwei Stunden. Dann öffnete er wieder die Augen und staunte nicht schlecht. Am Waldrand schlich vorsichtig ein blauer Panther entlang. Es war kein besonders prächtiges Tier, eher klein und kümmerlich, aber Hertha dachte sich, dass dieser Happen ihn deutlich kräftiger machen würde als Robert Rabe, der kaum was für den hohlen Zahn gewesen war. So schlich sich Hertha Bärlin von hinten an den blauen Panther und erlegte ihn mit zwei kräftigen Schlängen seiner Pranken. Dann hielt er inne. „Moment, wenn der Panther so geschlichen ist, dann muss er auf der Jagd gewesen sein.". Und tatsächlich, in der Ferne sah er es zwischen den Bäumen glitzern. Neugierig schlich Hertha näher. Was für eine Enttäuschung. In einer halb verrosteten Rüstung steckte ein hagerer Jüngling mit null Fleisch an den Rippen. Mit zitternden Händen hielt er ein Schwert in die Höhe und rief „Ich bin Knappe Markus und ich habe keine Angst." Hertha brauchte nicht einmal einen Dosenöffner, um den Knappen aus seiner Rüstung zu holen. Das war zwar immer noch kein Festschmaus, aber Hertha meinte fast spüren zu können, wie seine Muskeln immer kräftiger und seine Schultern immer breiter wurden.

Die Sommerhitze ging und erste goldgelbe Blätter an den Bäumen kündigten den Herbst im Ligaland an. Hertha fühlte sich kräftig wie nie und er beschloss, sich einmal an einer viel gefährlicheren Beute zu versuchen. Er lief los, quer durch den Wald bis hin zur Savanne im Süden des Ligalandes, in der Leo Löwe wohnte. Ha, Leo würde Augen machen, wenn Hertha sich auf einmal von hinten an in ihn anschl... „Autsch". Hertha konnte gerade noch ein Stück zur Seite springen, als eine kräftige Tatze nach ihm hieb und blutige Kratzer auf einer Seite hinterließ. Der Bär musste einsehen, dass sein allzu sorgloser Zug durchs Ligaland von Leo nicht unbemerkt geblieben war und der Löwe ihm eine Falle gestellt hatte. Drei schmerzhafte Schläge gegen die empfindliche Bärennase später trollte Hertha sich wieder heim. Wieder zurück bei seiner Familie spürte er die missbilligenden Hab-ich's-doch-gewusst-Blicke von Mama und Papa Bärlin.

Aber Hertha war auch ein schlauer Bär. Als er am nächsten Tag unterwegs war, sah er den Schatten eines sehr großen Vogels am Boden. Das konnte nur Anton Adler sein, mit dem er in der Vergangenheit so manchen harten Kampf ausgefochten hatte. Den scharfen Krallen ging er lieber aus dem Weg und auch Anton schien es nicht unbedingt auf einen Kampf mit Hertha abgesehen zu haben. Also trennten sich die Wege der beiden wieder ohne Sieger und ohne Verlierer und Hertha trottete weiter zum Fluss.

„Hmm ... frischer Fisch." Seit einiger Zeit sprangen die Fischköpfe fast bereitwillig in die Hände von jedem, der sie fangen wollte. „Früher war das auch mal schwieriger", dachte der Bär so bei sich, als er sich seinen Fang schmecken ließ. „Und wärmer war es auch". Wenn er ehrlich war, fröstelte ihm sogar ein wenig, die warme Jahreszeit schien plötzlich endgültig vorbei zu sein. Und da, das müsst Ihr wissen, Bären sehr direkt sind und besonders Hertha und seine Familie eine echte Bärliner Schnauze hatten, dachte Hertha gleich hinterher: "Dit is soga aschkalt, wah". Auf einmal glitzerten kleine Eiskristalle in der Luft und auf seinem Pelz bildete sich Reif.

Die Eiskristalle verdichteten sich und formten eine Gestalt, die in der Luft schwebte. Ihr hageres, schmales Gesicht schaute Hertha direkt in die Augen. „Hä, wer bist denn du?", fragte der Bär interessiert und leicht hungrig. „Ich bin Tuchella, die Fee des Winters", antwortete sein Gegenüber. „Die Zeit der Völlerei ist vorbei. Ab sofort gibt es nur noch karges Gras und kleine Beeren zu fressen. Zeit, schlafen zu gehen". Natürlich kannte Hertha wie jeder Bär den Winterschlaf, aber Anfang Oktober fand er eigentlich verdammt früh. „Eisbärli hat gerade erst angefangen zu spielen und auch Albärli ist noch putzmunter", wandte er ein. „Bist du ganz sicher, dass es schon Zeit ist, mich in die Höhle zu legen und zu schlafen?" Die Fee holte einen Stapel Zeitschriften heraus und zeigte sie Hertha. „Tuchella beendet kühl die Zusammenarbeit mit ..." las der Bär auf einer Zeitung. „... bleibt Tuchella unterkühlt" in einer anderen. „Reicht dir das als Beweis?" fragte die Fee. „Wenn ich komm, dann wird's kalt. Also los, es ist Zeit."

Widerwillig und gewohnt missmutig lief Hertha los. Eigentlich hatte er noch gar keine Lust auf Winterschlaf, schließlich lief es gerade so gut für ihn. Er wollte noch mehr fressen und allen zeigen, was für ein prächtiger Bär er war. Mama Bärlin, Papa Bärlin, Uniona, Eisbärli und Albärli, sie alle sollten ihn bewundern. So dachte er, als er gerade die große Lichtung vor seiner Höhle betrat. „Weißt du was, Tuchella? Ist mir egal, ob du den Frost bringst, ich bleib noch wach." „Jeeeeeeeeeeeeeeetz!", schrie Tuchella.

Peng.

Hinter dem großen Steinblock direkt neben der Tür trat ein schwatzgelb gewandeter Jäger hervor. „Sauberer Schuss", lobte Tuchella und reckte den Daumen in die Luft. „War aber auch einfach, weil du so gut vorgearbeitet hast", antwortete der Waidmann. „Und jetzt komm, ab mit dem Fell vorn Kamin. Schließlich wird bald wirklich Winter." So schlenderten Tuchella und der Jäger Arm in Arm davon. Über seiner Schulter das Fell von Hertha Bärlin.

Sascha, 13.10.2016

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