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Die Ja-aber-Hinrundenanalyse

30.12.2016, 09:49 Uhr von:  Sascha
Die Ja-aber-Hinrundenanalyse
So richtig zum jubeln war die Saison bislang noch nicht

So wirklich zufrieden wird vermutlich niemand mit der Hinrunde 2016/2017 gewesen sein und auf Thomas Tuchel wartet viel Arbeit in der Winterpause. Aber wo lagen eigentlich die Hauptprobleme?

Der personelle Umbruch von der Spielzeit 2015/2016 zur aktuellen war enorm. Mit Ilkay Gündogan, Henrik Mkhitaryan und Mats Hummels hat eine komplette Achse eine Mannschaft verlassen, die in der letzten Saison 78 Punkte eingefahren hat. Nicht nur die Überbayern, auch der BVB schien der Liga bereits weit entrückt zu sein. Dass man unserer Borussia trotz den hochkarätigen Abgängen zugetraut hat, die Stellung als deutsche Nummer zwei zu halten, lag an der durchaus spannenden Transferpolitik. Die enormen Transfererlöse in Höhe von rund 100 Millionen Euro wurden fast 1:1 wieder für Spieler ausgegeben, die einerseits noch Entwicklungspotential besitzen, andererseits den Kader aber auch in der Breite qualitativ aufwerten sollten.

Von Stade Rennes wurde mit Ousmane Dembelé eines der am meisten begehrten Nachwuchstalente verpflichtet, vom FC Lorient Raphaël Guerreiro, der selbst in der portugiesischen Europameisterelf positiv hervorstach. Auch der türkische Neunationalspieler Emre Mor zeigte beim Kontinentalwettbewerb, warum seine Dribbelkünste Otto Addo an Lionel Messi erinnerten und mit Marc Bartra konnte ein echtes 8-Millionen-Schnäppchen vom großen FC Barcelona verpflichtet werden, das aus der legendären Ausbildungsschule La Masia stammt. Weitere Stabilität sollten gestandene Spieler geben, die bereits über Erfahrung auf Champions-League Niveau verfügen. Sebastian Rode wechselte aus München nach Dortmund, um sich durch höhere Einsatzzeiten auch wieder für die Nationalelf zu empfehlen. André Schürrle und Mario Götze sind als Weltmeister bereits fester Bestandteil von Jogis Truppe.

Schon vor Saisonstart gab es einige Vorschusslorbeeren für die mutmaßlich spannenste Mannschaft der Liga. Eine Schwächephase der Bayern vorausgesetzt, schien sogar ein offener Titelkampf im Bereich des Möglichen, wenn alles optimal verlaufen würde. Aber wie wir alle wissen, verlief nicht alles optimal. Zwar ist uns einer großer Absturz wie in der vorletzten Saison erspart geblieben, aber Platz 6 nach dem vorletzten Spieltag der Hinrunde ist auch kein Zwischenstand, der einen zufrieden stellen kann. Dabei beträgt der Abstand auf Platz 3 nur drei Punkte, also bei weitem keine unlösbare Aufgabe, aber überraschenderweise kämpft man nicht mit hochgehandelten Mannschaften wie Gladbach oder Gelsenkirchen um den Einzug in die europäische Königsklasse, sondern mit Hertha, Frankfurt, Hoffenheim und Köln. Also durch die Bank Teams, die über deutlich geringere Möglichkeiten auf dem Transfermarkt verfügen.

Mit welchen Mitteln und Maßnahmen man diese Mannschaften im Jahr 2017 hinter sich lassen will, ist die spannende Frage für die Winterpause. Besonders schwierig wird die Suche nach den Stellschrauben für die Zukunft dadurch, dass die Gründe erst einmal vielzählig und diffus sind. Für jedes Argument gibt es eine begründete „Ja, aber“- Antwort, die Verantwortlichkeiten an eine andere Stelle schieben kann. Gehen wir mal die großen Punkte im Einzelnen durch:

1. Die Saisonvorbereitung

Saisonverbereitung gegen Sunderland

Das ist so etwas wie der Fluch der guten Tat. Spielt man erfolgreich Fußball, dann steigt zwangsläufig der Anteil von Nationalspielern im Kader. Alle größeren und großen Mannschaften haben im Rhythmus von zwei Jahren das Problem, dass etliche ihrer Kicker die Sommerpause nicht zur Regeneration nutzen können, weil sie mit ihren jeweiligen Nationalteams an internationalen Wettkämpfen teilnehmen. In diesem Sommer standen mit der Europameisterschaft und den olympischen Spielen gleich zwei Wettbewerbe an, bei denen Spieler unseres BVB vertreten waren, so dass Thomas Tuchel gerade einmal eine bessere Rumpftruppe zum Saisonauftakt begrüßen durfte. Erst im Laufe der Vorbereitung füllte sich der Kader nach und nach auf, wobei einige Spieler Verletzungen mitbrachten, bei anderen die körperliche Fitness erst wiederhergestellt werden musste. Verstärkt wurden diese Belastungseffekte dadurch, dass viele Spieler bereits eine lange Vorsaison, bedingt durch die Qualifikationsrunden für die Europa-League, in den Knochen hatten. Dass Belastungen an der Anschlagsgrenze bei gleichzeitig minimierten Erholungszeiten ein Problem für jede Mannschaft sind, ist ebenso klar wie richtig.

Ja, aber – es ist auch ein Problem, das nicht aus heiterem Himmel kommt. Es war von vorneherein klar, dass fünf der acht Neuzugänge an der Europameisterschaft teilnehmen werden, so wie man mindestens bei Pischu, Weigl, Bürki und Reus mit weiteren Abstellungen rechnen musste. Unter diesen schwierigen Bedingungen hat man sich trotzdem zu einer Reise nach Asien und der Teilnahme am werbewirksamen International Champions Cup entschlossen. Anders als bei normalen Vorbereitungsturnieren musste die Mannschaft hier schon halbwegs funktionieren, weil eine deutliche Unterlegenheit gegen die beiden Gegner aus Manchester alles andere als förderlich für die wachsende Präsenz des BVB auf dem asiatischen „Markt“ gewesen wäre. Man kann also schon die Frage stellen, ob Borussia auf die sich abzeichnenden Probleme angemessen reagiert hat oder ob es nicht eher hausgemacht sogar noch verstärkt wurde.

2. Verletzungen

Nur einer von vielen "Gästen" des Reha-Centers

Ohne Frage ein Punkt, der den Verlauf der Hinrunde massiv beeinflusst haben dürfte. Teilweise bis zu zehn Spieler, die gleichzeitig mit Verletzungen ausgefallen sind, stellen eine enorme Belastung dar. Mit Sven Bender fiel ein eingeplanter Innenverteidiger fast die gesamte Hinrunde aus, Raphaël Guerreiro konnte gerade einmal in fünf Spielen zeigen, dass er die Lösung für die Probleme im Umschaltspiel darstellen könnte, genauso wie Marco Reus mit seiner spielerischen Qualität erst spät im Saisonverlauf die Offensive verstärken konnte. Gerade einmal eine handvoll Spieler im gesamten Kader können von sich behaupten, nicht wenigstens drei Spiele am Stück verletzungsbedingt verpasst zu haben.

Ja, aber – vielleicht keine andere Mannschaft war nominell so gut für diesen Ausnahmezustand aufgestellt. Zu keinem Zeitpunkt der Hinrunde stand eine Notelf auf dem Platz, bei der Thomas Tuchel mehrere Spieler der U23 reinschmeissen musste. Selbst beim Auswärtsspiel in Hoffenheim, bei dem besagte zehn Spieler ausfielen, saßen nach Ablauf der 90 Spielzeit noch André Schürrles und Shinji Kagawa ohne Einsatz auf der Bank. Unsere Gegner waren teilweise von absolut weniger Verletzungen betroffen, die aber qualitativ viel schwerer wogen. So fehlte den Eintrachtlern aus Frankfurt beispielsweise bei ihrem Sieg gegen uns mit Marco Russ, Marc Stendera, Slobodan Medojevic und Danny Blum wichtige Spieler. Dafür saßen Spieler wie Aymen Barkok, Enis Bunjaki oder Furkan Zorba dort auf der Bank. Bei uns mag die wechselnde Zusammenstellung der Startelf ein Problem gewesen sein, die aber auch bei einem normalen Krankenstand bewusst vorgenommen wurde. Insofern ist diese Argumentation für sich genommen nicht wirklich schlüssig, weil der Kader immer personelle Alternativen anbot.

3. Der Trainer

Coach Thomas Tuchel

Auch wenn man höchst subjektive Einschätzungen über Thomas Tuchel als Person ausblendet, kann man durchaus hinterfragen, ob der Trainer die Spieler nicht überfordert. Wie schon bei den Verletzungen angemerkt, wurden von Spiel zu Spiel eine Vielzahl tiefgreifender Veränderungen oft bewusst statt aus der Not heraus vorgenommen. Allein die Aufzählung aller personellen Konstellationen im Abwehrverbund nimmt ordentlich Zeit in Anspruch. Auf der rechten Außenbahn haben bereits Lukas Piszczek, Matze Ginter und partiell Felix Passlack gespielt, auf der linken Seite Marcel Schmelzer, Raphaël Guerreiro und erneut Passlack. Auch in der Innenverteidigung gibt es mit „Papa“ Sokratis nur eine Konstante, neben der wahlweise Marc Bartra, Mathias Ginter und mittlerweile auch wieder Sven Bender auflaufen durften. Die Variationsmöglichkeiten vervielfachen sich noch durch situative Umstellungen von Vierer- auf die Dreierkette. Davor durfte sich Julian Weigl mal alleine als Spielgestalter von hinten heraus versuchen, dann in Kombination mit Gonzalo Castro, Sebastian Rode, Mathias Ginter, Nuri Sahin oder sogar Shinji Kagawa. Der Umstand, dass sich bis auf Roman Bürki, Sokratis, Julian Weigl und Pierre-Emerick Aubameyang kein Spieler als so etwas wie „gesetzt“ fühlen darf, dürfte auch nicht gerade zur individuellen Sicherheit beitragen. Im Extremfall fanden sich Spieler, die am Spieltag zuvor erst gar nicht in den Kader aufgenommen wurden, in der Startelf wieder – nur um dann am nächsten Wochenende wieder auf der Bank Platz zu nehmen.

Dabei muss angemerkt sein, dass die Rotation an sich kein Selbstzweck für Thomas Tuchel ist. In nahezu allen Fällen sind die Veränderungen für den Moment und im Detail betrachtet nachvollziehbar. Man muss die Entscheidung so nicht teilen, aber man kann fast immer eine Erklärung dafür finden. Möglicherweise macht Thomas Tuchel sich aber zu viele Gedanken, seziert den Gegner zu kleinteilig in zu lösende Probleme, die er ebenso kleinteilig beantworten will. Und dabei berücksichtig er eventuell zu wenig die Mannschaft als Ganzes und unterschätzt die Notwendigkeit von Stabilität und festen Abläufen.

Ja, aber – auf dem Platz stehen immer noch die Spieler, die man für ihre individuellen Fehler nicht einfach so aus der Verpflichtung entlassen darf. Wer Thomas Tuchel beim aktiven Coaching an der Seitenlinie beobachtet, dem wird schnell klar, dass dort Dinge passieren, die schlichtweg nicht von ihm gewollt sind. Er dirigiert Spieler bei ruhenden Bällen in andere Bereiche des Spielfeldes, zeigt Laufwege an und ruft teilweise schon sehr früh im Spiel sein kickendes Personal zu sich an die Auslinie, um ihnen Anweisungen zu erteilen. Und mehr als einmal wirkte sein Gesichtsausdruck in negativer Hinsicht verblüfft darüber, was seine Mannen da auf dem Spielfeld anstellten. Da davon auszugehen ist, dass jeder Spieler vor einem Spiel genaue Anweisungen über seine taktische Rolle auf dem Platz erhält, ist auch jeder dafür verantwortlich, sich an diese Rolle zu halten.

Dazu kommen individuelle Fehler und schlampiges Zweikampfverhalten, für die sich jeder an die eigene Nase fassen darf. Exemplarisch seien dabei ein schwacher Zweikampf von Sebastian Rode im Mittelfeld gegen Leipzig genannt, in dessen Folge das Tor für den Gegner fiel, oder Marc Bartras origineller Versuch gegen Augsburg, einen Flachpass durch den Gegenspieler hindurch auf Aubameyang zu spielen. Auch diese Aktion endete in einem Gegentor. Der Liste ließen sich angesichts von 29 Gegentoren in allen drei Wettbewerben noch etliche Szenen hinzufügen, auf die der Trainer schlicht keinen direkten Einfluss hat, die aber maßgeblich für den Spielverlauf sind. Gerade bei unserer momentanen Anfälligkeit bei intensiv pressenden und hart spielenden Gegnern ist ein Rückstand gleich ein enormer Rucksack für die Mannschaft.

4. Der Spielstil

Garantiert Spektakel: Ousmane Dembelé

Ein Kritikpunkt, den man fast auch unter Punkt 3 einsortieren könnte. Thomas Tuchel wird oft eine zu große Nähe zur ballbesitzorientierten Spielphilosophie von Pep Guardiola vorgehalten. Eine hohe Ballbesitzquote, die zu fast endlos langen Passstafetten führt – mit dem Gefühl, dass minutenlang auf dem Platz kaum etwas passiert. Nicht nur, dass diese Form des Ballbesitzes ohne großen Raumgewinn für wenig Enthusiasmus auf den Rängen sorgt und bei Heimspielen nicht gerade zu einer anpeitschenden Atmosphäre beiträgt, es wirkt teilweise so, als würde sich die Mannschaft auf dem Platz selber einschläfern. Das Spiel wird so extrem in die Breite gezogen, dass es statisch wird und man Schwierigkeiten hat, das vertikale Element wieder hinein zu bekommen. Ein Grund dafür ist mit Sicherheit, dass mit Gündogan ein Spieler den Verein verlassen hat, der ein wichtiges Bindeglied zwischen Defensive und Offensive war und zu seinen Hochzeiten den Ball hervorragend zwischen den Mannschaftsteilen hin und her transportieren konnte.

Sein Nachfolger auf dieser Position, Gonzalo Castro, schien zu Saisonbeginn an die guten Leistungen von vor der Sommerpause anknüpfen zu können, liefert aber mittlerweile eine bedenkliche Vorstellung nach der anderen ab und schafft es nicht, diese Rolle ausreichend auszufüllen. Für Julian Weigl scheint die Verantwortung, gleichzeitig für Defensiv- und Offensivarbeit zuständig zu sein, noch etwas zu groß. Seine Anlagen dafür blitzen ohne Zweifel dafür schon auf, man denke nur an sein Tor in Lissabon, aber er spielt noch viel zu oft den sicheren Ball zum Nebenmann, statt den Ball ins gefährliche Drittel zu bringen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Gegner oft genau ihn als Schaltzentrale in den Fokus nehmen und ihm das Leben schwer machen.

Ja, aber – wir jammern auf hohem Niveau. In der Bundesliga stellen wir mit 35 Treffern den zweitbesten Sturm, in der Champions-League haben wir aktuell mit satten 21 Toren gar einen Rekord aufgestellt. Weder Christiano Ronaldo, noch Lionel Messi haben mit ihren Teams dem Gegner so oft einen eingeschenkt. Insgesamt 60 Tore in 24 Pflichtspielen, also gut 2,5 Tore pro Spiel. Für Spektakel ist also ausreichend gesorgt. Wir mögen zwar Probleme haben, den Ball in den Bereich rund um den gegnerischen Sechszehner zu kriegen, aber wenn der erst dort ist, dann geht in der Regel die Post ab. Mit 235 Torschüssen liegen wir auch hier ligaweit auf dem zweiten Platz. Dass wir sie zu fast 15 % zu eigenen Treffern nutzen, ist sogar Bestwert. Und es kann niemand abstreiten, dass es einen hohen Unterhaltungswert hat, wenn Aubameyang mit dem Ball in Tornähe kommt, oder Ousmane Dembelé mit seinen Storchenbeinen zu irren Sololäufen ansetzt. Trotz aller Probleme im Spielaufbau, nur die Bayern schaffen es, häufiger gefährlich vor das Tor zu kommen und auch wenn man auf den Moment etwas warten muss, bis die Post abgeht, wenn er da ist, dann zeigt Borussia eine sehr spektakuläre Spielweise.

Fazit:

Die Rückrunde ist aufgrund der Vielzahl unterschiedlicher Betrachtungsweisen fast eine Wundertüte. Wenn auch auf sehr hohem Niveau. Dass wir in der Rückrunde von Verletzungen im größeren Stil verschont bleiben, ist ebenso mehr Wunsch denn in Stein gemeißelter Fakt, wie die Hoffnung, dass die Spieler, angefangen von „Altspielern“ wie Castro bis hin zu den Neuzugängen Mario Götze, Andre Schürrle oder Marc Bartra, zu konstant guten Leistungen (zurück)finden.

Ein Hauptaugenmerk der Arbeit im Wintertrainingslager dürfte dabei auf der Defensivarbeit liegen, eventuell wird man hier auch noch auf dem Transfermarkt aktiv werden, wenn man mit dem vorhandenen Personal keinen deutlichen Qualitätssprung erwartet. Damit wäre dann der Ablauf ähnlich der letzten Saison, bei der man in der Hinrunde noch darauf setzte, vorne einfach ein Tor mehr als der Gegner zu machen und dann in der Winterpause erfolgreich am Toreverhindern arbeitete. Mit Erfolg, man verringerte im Ligaalltag die Anzahl der kassierten Treffer um 20 %.

Das wird auch dringend notwendig sein, wenn man wenigstens das Minimalziel mit dem erneuten Einzug in die CL erreichen will. Sollte Rasenball Leipzig nicht doch noch, was wünschenswert wäre, einbrechen, dann spielt man mit vier anderen Teams um den einzigen Platz, der den Einzug in die Gruppenphase garantiert. Und vor allem Hertha BSC und den Hoffenheimern unter Trainer Julian Nagelsmann ist zuzutrauen, bis zum Ende ein hartnäckiger Gegner zu bleiben. Und letztendlich sollte ein „sicheres“ Endergebnis von 65 Punkten + X auch angesichts des finanziellen Aufwands, den Borussia Dortmund mittlerweile betreibt, eins sein, das man erwarten darf.

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