Unsa Senf

Große Nationenturniere: eine Hassliebe

10.06.2016, 11:00 Uhr von:  NeusserJens
Große Nationenturniere: eine Hassliebe
Yeah, "Public Viewing"!
© Arne Müseler / CC-BY-SA-3.0

Heute beginnt in Frankreich die EURO 2016. Unser Redakteur NeusserJens beschreibt in diesem Kommentar, wieso er die großen Sommerturniere hasst - und liebt.

Man wird bisweilen etwas komisch angesehen, wenn man alle zwei Jahre im Sommer nicht beginnt, bei der Nationalmannschaft von "wir" zu sprechen, "uns" ganz doll den Titel zu wünschen oder in schwarz-rot-geilen Jubel auszubrechen. Ironischerweise gucken einen genau jene komisch an, die in den 23 Monaten zwischen zwei Turnieren kaum etwas mit Fußball anfangen können. Warum ich Nationenturniere hasse - und liebe.

Wenn die halbe Welt wegen der nahezu cineastisch inszenierten Verkündung eines (vorläufigen) Kaders den Atem anhält, wenn tagesschau und heute journal dazu übergehen, täglich mehrere Minuten über Nichtigkeiten aus dem Quartier der deutschen Nationalmannschaft zu berichten, wenn Spielerfrauen zu Werbe-Testimonials werden und sämtliche Supermärkte und Discounter ihr Sortiment in schwarz, rot und geil hüllen - dann beginnt für Fußballfans die schönste/schlimmste Zeit des Jahres: Es ist Welt- oder Europameisterschaft. Zeit, alle Abneigungen über Bord zu werfen und für das Vaterland gemeinsam eine große Party zu feiern!

Ich möchte an dieser Stelle nicht falsch verstanden werden: Ich liebe große Nationenturniere. Es gibt für mich kaum eine schönere Vorstellung, als jeden Tag bei großartigem Sommerwetter mehrere Fußballspiele teils exotischer Mannschaften mitansehen zu können. (Überhaupt frage ich mich, wieso die Nationalverbände diese Witterungsbedingungen großzügig auslassen und uns bei Schneematsch im Januar ins Stadion jagen. Aber das ist eine andere Baustelle.) Die besten Spieler dieses Kontinents, wenn nicht gar des Planeten, treffen aufeinander und lassen in der Vorrunde Exoten und Underdogs ihren Traum wahr werden, einmal gegen die ganz Großen zu spielen und vielleicht sogar eine Sensation zu erleben: Football, bloody hell! Selbst bei Japan gegen Griechenland, einem der schwächsten Spiele der abgelaufenen Weltmeisterschaft, saß ich interessiert zu nachtschlafender Zeit vor dem Fernseher. Ich liebe diesen Sport!

Wären da nicht diese unfassbar nervigen Begleiterscheinungen. Von schwarz-rot-geilen Kartoffelchips über aufblasbare Klatschbaguettes bis zu Deutschland-Tattoo-Ärmeln: es gibt offenbar nichts, was es nicht gibt. Länderspiele "unserer" Nationalmannschaft werden zu einem riesigen Kostümfest, die Gesichtsschminke ist dabei fast wichtiger als das Spiel auf dem Rasen (bzw. der Großbildleinwand). Menschen, die sich sonst eher in Discotheken oder Sonnenstudios rumtreiben, als sich auch nur ansatzweise für Fußball zu interessieren, bevölkern das "Public Viewing" (was im Englischen übrigens bedeutet, dass der Sarg bei einer Beerdigung geöffnet bleibt, damit der Leichnam öffentlich zur Schau gestellt wird...) und feiern "ihre" Mannschaft zu DJ Ötzi und Culcha Candela. Ich habe überhaupt kein Problem damit, wenn Menschen ihr Fansein unterschiedlich ausleben, egal ob Ultra, Kutte, Trikotträger oder Normalo. Wenn mein geliebter Sport aber für viele, die sonst keinerlei Interesse am Fußball haben, zum Anlass für das nächste Saufgelage reduziert wird und nicht mehr ist als ein austauschbares Partymotto, dann denke ich mir: Hau ab mit der Scheiße! Lass mich in Ruhe mit "Schland" und "Party", ich will verdammt noch mal Fußball gucken!

In Essen müssen Bundesliga-Trikots leider draußen bleiben...
Und selbst wenn ich Saufgelage, Straßenfeste und Autokorsos nach ungefährdeten Vorrunden-Siegen außen vor lasse, fällt es mir einfach schwer, mit der Nationalmannschaft warm zu werden. Das war nicht immer so und wenn ich die Begeisterung in den Gesichtern meiner Neffen und Nichten sehe, wünsche ich mir diese lockere Unwissenheit manchmal zurück. Als 2002 sämtliche Schulen den Unterricht vorzeitig beendet haben, damit die Kinder (und Lehrer) pünktlich zum Anpfiff des Viertel- und Halbfinals zuhause sein konnten... das waren noch Zeiten!


Doch ich kann nicht mehr mit einer Mannschaft fiebern, die zu großen Teilen aus unsympathischen Bayern, blauen Blauen oder gar unsympathischen blauen Bayern besteht (Hallo, Reklamierarm!). Wie soll ich hinkriegen, plötzlich einen Spieler anzufeuern, dem ich in seinem Verein mit großer Abneigung gegenüberstehe? Ich kann nicht mit einem Team jubeln, das selbst immer weniger als die schlichte Zusammenstellung der besten Fußballspieler dieses Landes gilt, sondern nur noch als übervermarktetes (Vive la Mannschaft!) Konglomerat von unmündigen, angepassten Ich-AGs. Ich kann keinem Bundestrainer nacheifern, der das Leistungsprinzip offenbar missachtet, Spieler auf ihnen fremden Positionen durchschleift und eine öffentliche Menschenführung an den Tag legt, die jedem Erzieher-Azubi die Schamesröte ins Gesicht treiben würde. Und das finde ich schade, denn ich mag dieses Land, in dem ich lebe, und die integrative Wirkung des Fußballs sehr, sehr gern.

Und so kommt es, dass ein solches Nationenturnier von mir immer mit einem großen emotionalen Zwiespalt gesehen wird. Auf der einen Seite steht der Wahnsinn, der rund um jedes Spiel der deutschen Nationalmannschaft stattfindet und mir jede Lust an meinem Lieblingssport nimmt - auf der anderen Seite stehen viele tolle Spiele unterschiedlichster Mannschaften in kurzer, hoffentlich sonniger Zeit. Darauf freue ich mich wirklich, genau so wie darauf, unsere (Neu-)Borussen noch mal genauer unter die Lupe zu nehmen - also lasset die Spiele beginnen!

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