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Die Rationalisierung des BVB

29.04.2016, 10:00 Uhr von:  NeusserJens
Die Rationalisierung des BVB
Berliner Olympiastadion ist immer eine Reise wert

Pokalfinale, zum vierten Mal in fünf Jahren. Was für eine herausragende Leistung, was für eine Ära. Eigentlich ein Grund, komplett zu eskalieren... Eigentlich. Denn die Realität, die meine Gefühlswelt aktuell gefangen hält, sieht anders aus. Ich ertappe mich dabei, wie ich mir "Nicht schon wieder Finale gegen Bayern" denke und emotional auch insgesamt ein wenig durchhänge, was den BVB betrifft.

Das mag nun nach dem Lesen alles wirken wie ein riesiger Eintopf aus Themen, die so nichts miteinander zu tun haben - es sind aber alles Themen und Gedanken, die sich dazu summieren, dass mir das Feuer fehlt, das Borussia in den letzten Jahren in mir entfacht hat. Aber eins nach dem anderen.

Kontrolle, Erfolg - Langeweile

Als Jürgen Klopp den BVB verließ, war ich zuerst natürlich geschockt. Es war für mich unvorstellbar geworden, dass dieser Verein und dieser Trainer, der wie kein Zweiter nach Dortmund passte, nicht mehr zusammenarbeiten würden. Und doch sah ich schon relativ schnell, dass dies sportlich und für den Erfolg der Mannschaft die richtige Entscheidung sein könnte, insbesondere nachdem Thomas Tuchel als Nachfolger feststand. Anders als viele BVB-Fans hatte ich keine Vorbehalte gegenüber unserem neuen Trainer, denn ich dachte: Es wird anders werden, aber das muss nicht unbedingt schlechter sein.

Brachte Struktur und Erfolg: Thomas Tuchel

Und so kam es dann auch. Die Spieler wirkten wie revitalisiert, als hätte man ihnen neues Leben eingehaucht, und trotz eines Mammutprogramms eilte der BVB von Sieg zu Sieg. Es war und ist beeindruckend zu sehen, wie reibungslos die Umstellung klappte und wie gut diese Mannschaft, die überwiegend bereits als solche bestand und schon seit Jahren für den BVB spielte, den komplett neuen Spielansatz umsetzt. Tuchel formte ein Ballbesitz- und Kontrollmonster, das sicher noch nicht am Ende seiner Entwicklung angekommen ist und in den kommenden Jahren noch erdrückender und dominanter über die Gegner (wenn nicht gar Opfer) hinwegrollen wird. Chapeau.

Dennoch, und das ist mein Problem, versetzt mich unser Spiel nicht mehr in die Ekstase der letzten Jahre. Versteht mich nicht falsch, ich bin hochgradig begeistert von der vermeintlich besten Bundesligasaison der Vereinsgeschichte! Was mich stört, ist die kühle, verkopfte Art des Teams, die von oben angeordnet wurde. Da, wo zuletzt noch junge Erwachsene über den Platz fetzten, als gäbe es kein Morgen und damit genau die Tugend auf den Platz brachten, die hier wohl am meisten geschätzt wird - Leidenschaft! - traben nun elf perfekt geschulte und clever eingestellte Spieler über den Platz und spielen unbeeindruckt ihren Stiefel herunter. Natürlich ist das ökonomischer als den Gegner totzupressen, der Erfolg gibt dem neuen Trainer ja auch recht. Doch es reißt mich nicht mehr so mit wie die Spiele, die von unseren Spielern überwiegend mit dem Herz und nicht mit dem Kopf bestritten wurden.

Das beginnt bei einem Bundesliga-Spitzenspiel, in dem man schon lange vor Schlusspfiff die Offensivbemühungen einstellt, weil man sich mit dem Unentschieden zufrieden gibt und geht weiter mit einem Auswärtsderby, das man von vornherein als nebensächlich einstuft und dann auch so herunterspielt. Es endet in Liverpool, wo man in einem irren Spiel nur deshalb verliert, weil man weniger gewinnen will als der Gegner, in einer unfassbaren Atmosphäre den Kopf verliert und dann nicht mehr das Herz hat, um sich ausreichend zur Wehr zu setzen. Der Wechsel vom absoluten Motivations-Meister zum verkopften Laptop-Trainer (kein Angriff!) spiegelt sich total auf dem Platz wieder. Und obwohl die neue Spielweise und der Erfolg beeindruckend sind, bleiben Leidenschaft und Wille oftmals auf der Strecke. Tugenden, die in Dortmund - und für mich persönlich - eigentlich unabdingbar sind.

Stimmung oder "Stimmung"?

Intensive Emotionen sind Mangelware auf der Südtribüne

Dieses Gefühl wird unterstützt durch einen bereits länger anhaltenden Trend auf den Tribünen. Das teure England mit seinen veralteten Fans und unbezahlbaren Preisen wird von hiesigen Stimmungsmachern ob seiner eingeschlafenen Atmosphäre oft nicht mal mehr müde belächelt und doch haben die Spiele und Stadien dort etwas, das hier mittlerweile fast komplett verloren gegangen ist: Emotionen. Sicherlich war das Spiel in Liverpool da eine großartige Ausnahme, es zeigte mir aber einmal mehr, dass mir hierzulande immer häufiger der Bezug der Tribüne zum Geschehen auf dem Rasen fehlt. Während dort nach gewonnenen Zweikämpfen oder erfolgreichen Pässen ein mitreißender Jubel aufbrandet, singt das Westfalenstadion großzügig (und verhältnismäßig eintönig) über jede Aktion im Spiel hinweg.

Natürlich ist es wünschenswert, das Team auf dem Platz nicht nur dann zu besingen, wenn es gerade gewinnt. Aber 90 Minuten vom Spiel entkoppelte Gesänge im italienischen Stil, bei denen die Kreativität von Texten und Melodien wichtiger ist als die Lautstärke im Stadion, sind vielleicht ein toller Klangteppich für die Zuschauer in den Logen und vor den Fernsehern, sie haben aber leider herzlich wenig mit echter Stimmung und mitreißenden Emotionen zu tun. Wenn tolle Pässe, erfolgreiche Grätschen und verpasste Chancen in monotonem Gebrabbel und eintönigem Lalalala untergehen, verliere auch ich die emotionale Bindung zum Spiel - und damit die Lust an eben jenem. Denn dass ein richtig lautes, kochendes Stadion, das einfach nur unkontrolliert Lärm macht oder zum fünfzehnten Mal im Spiel mit diesem einen, simplen Gebrüll auffällt, auch das aussichtsloseste Spiel für das verunsicherte Team auf dem Rasen gewinnen kann, mussten wir äußerst schmerzlich erfahren, als das Stadion an der Anfield Road seinem legendären Ruf mehr als nur gerecht wurde.

Von echter Liebe und anderen Werten

Nicht zuletzt raubt mir die Emotion, dass sich mein Club zuletzt auch von oben herab immer häufiger merkwürdig verhält. Während unser Kapitän sich selbst disqualifiziert, indem er seine Besatzung im Stich lässt, jagt die sportliche Leitung massig Identifikationsfiguren für uns Fans vom Hof: vom Südtribünenjungen Kevin Großkreutz über den großen Melancholiker Kuba bis - vermutlich - zum sozial bemerkenswert engagierten Neven Subotic. Dies sind alles Abgänge, die sportlich sicherlich nachvollziehbar sind, im Herzen aber dann doch eine ganz schöne Lücke reißen.

Wird eventuell nie mehr das Trikot des BVB tragen: Neven Subotic
Im Gegenzug spielt die Führungsetage offenbar ernsthaft mit dem Gedanken, einen Spieler zurückzuholen, der seit seinem Nacht-und-Nebel-Abgang bei jedem Auftritt im Westfalenstadion aufs Schärfste angegangen wurde und sich bisher noch nicht einmal mit seinen Mannschaftskameraden gemeinsam vor der Südtribüne warmlaufen konnte. Sein Gesicht könnte im Lexikon problemlos neben "Persona non grata" zu sehen sein.


Doch das ist noch nicht alles: Von kommerziell peinlich ausgeschlachteten Fanfesten in Berlin über grauenvoll schlecht kommunizierte Preiserhöhungen bei Eintrittskarten und Trainingslagern in Ländern mit mindestens fragwürdigen Menschenrechtssituationen - Borussia arbeitet an allen Fronten daran, seine Werte (oder das, was ich jahrelang dafür hielt) dem Erfolg zu opfern. Aus dem fannahen Verein, dessen Trainer sogar mit Fans in einer Kneipe Karten spielte, wird zunehmend ein steriles, global expandierendes Wirtschaftsunternehmen, bei dem man die öffentlich zugänglichen Trainingseinheiten im Jahr an einer Hand abzählen kann - alles im Sinne der Wettbewerbsfähigkeit, alles für den sportlichen Erfolg.

Doch wenn der einzige Wert, über den sich Borussia Dortmund definiert, der sportliche Erfolg ist; wenn von all den Ecken und Kanten, all den Besonderheiten, die uns von den anderen europäischen Topclubs abgehoben haben, am Ende nichts mehr bleibt als die Farbe der Trikots - was unterscheidet uns dann noch vom FC Bayern und ähnlichen Clubs, wie die wir nie sein wollten? Was macht Borussia Dortmund bis auf die persönlichen Bindungen unter uns Fans dann noch so besonders?

Vielleicht bin ich persönlich nur ein wenig satt nach dieser unglaublichen Ära. Vielleicht sind die vergangenen Jahre noch viel außergewöhnlicher gewesen als ich dachte. Vielleicht steuert unser Verein auch auf direktem Weg in die identitäre Austauschbarkeit. Was es auch ist, aktuell verliert das alles sehr viel von den berauschenden Gefühlen, die es mal mit sich brachte. Borussia Dortmund ist bei mir auf dem Weg von echter Liebe zu echt austauschbar - die totale Rationalisierung. Und das gefällt mir ganz und gar nicht.

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