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Moderne Regeln für einen modernen Fußball

22.07.2015, 08:32 Uhr von:  Redaktion

Unsere Serie: "Für den modernen Fußball"Es ist einer der Alpträume von uns Fußballfans: In einem wichtigen Pokalspiel, kurz vor Schluss der Verlängerung, steht es 1:1. Dann gibt es diesen Traumpass auf Marco Reus, der einen Schritt vor seinem Gegenspieler an den Ball kommt, nur noch den Torwart vor sich hat und dann von hinten umgesenst wird. Klare Sache, Rote Karte für den Verteidiger. Ansonsten gibt es aber leider nur einen Freistoß aus 17 Metern, der nicht ansatzweise eine Kompensation für die riesige Torchance darstellt. Entsprechend landet er in der Mauer, und im Elfmeterschießen scheidet Borussia dann doof aus.

Im Feuilleton heißt es oft, Fußball sei deswegen so beliebt auf der Welt, weil er so ein einfacher Sport sei: 22 Spieler, zwei Tore und ein Ball. Das ist natürlich hochgradiger Quatsch. Fußball ist um Längen komplizierter als Volleyball, Tennis oder Golf; allein die Formulierung der Abseitsregel ist so kompliziert, dass man sie im Regelwerk mit weiteren erklärenden Hinweisen und erläuternden Bildern versehen muss. Trotzdem scheitern Kommentatoren wie Fans regelmäßig an der Interpretation im Einzelfall, selbst wenn man die Auslegung des aktiven und passiven Abseits ausklammert.

Noch dazu sind die Regeln heutzutage selten wirklich fair, gerade mit Blick auf das Eingangsbeispiel. Würde man naiv über die Situation von oben nachdenken, so wäre es doch sinnvoll, dass man das Spiel so fortzusetzen versucht, dass es qualitativ der Situation ohne Foul entspricht. Läuft ein Spieler allein aufs Tor zu, so ist der Unterschied gering, wenn er 15 Meter oder 17 Meter vor dem Tor gelegt wird. Die Konsequenz in der Spielfortsetzung ist heute aber dramatisch groß. In einem Fall fällt mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Tor, im anderen Fall mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht.

Klare Torchance verhindert? Elfmeter!

Nur: Warum sollte es nicht in beiden Fällen Elfmeter geben? Dieses Prinzip ist aus anderen Sportarten bekannt: Im Handball ziehen manche Fouls einen Freiwurf und andere einen Siebenmeter nach sich, unabhängig vom Ort des Fouls. Genauso beim Eishockey: Manchmal gibt es nur eine Strafzeit und ein Bully als Spielfortsetzung, manchmal jedoch einen Penalty und selten sogar ein technisches Tor. In beiden Sportarten ist die Wertigkeit der Chance entscheidend; es wird für die Fortsetzung des Spiels also gerade nicht beachtet, wo das Foul stattfand, sondern nur, wie wertvoll die Chance war.

Denkt Nur eine von zwei Karten: Die Gelbe.man ein bisschen weiter, ergeben sich viele weitere Situationen, in denen die heutigen Fußballregeln quer zum natürlichen Blick auf das Spiel verlaufen. Bei einem taktischen Foul etwa gibt es meist eine Gelbe Karte und das war es dann. Wird also ein schneller Konter mit Drei gegen Zwei durch einen Trikotzupfer an der Mittellinie unterbrochen, ist die potentielle Torchance hinüber und das Spiel geht ohne wesentlichen Vorteil für die gefoulte Mannschaft weiter, von der Gelben Karte einmal abgesehen. Auch hier orientiert sich die Art der Spielfortsetzung also nicht daran, ob eine gefährliche oder eine ungefährliche Aktion unterbunden wurde, sondern hängt allein vom Ort des Fouls ab. Wieso macht man nicht in solchen Fällen nicht mit einem Freistoß aus 25 Metern weiter?

Die Logik des heutigen Regelsystems führt auch dazu, dass Fouls verschieden bewertet werden, abhängig davon, wo sie stattfinden. Derselbe Zweikampf kann im Mittelkreis ohne Diskussion zu einem Freistoß führen, während im Strafraum der berühmte Begriff der "elfmeterreifen Aktion" bemüht wird, um zu erläutern, warum lieber weitergespielt werden sollte. Ohne dass im Regelwerk irgendwas davon stehen würde. Dabei ist jedem klar, warum das passiert: Man will nicht für jeden Scheiß Elfmeter geben. Warum aber nicht genau das zur Regel machen? Elfmeter gibt es bei Vergehen, die eine klare Torchance verhindern. Freistöße rund um den Sechzehner gibt es bei Vergehen, die einen vielversprechenden Angriff unterbrechen, und beim Rest machen wir weiter wie bisher. Klingt um Längen einfacher und fairer als heute.

Mehr Strenge, flexiblere Strafen und effektive Spielzeit

Die Kartenpolitik ist auch ein leidiges Thema. Bereits angesprochen war die Gelbe Karte für Fouls, die der eigenen Mannschaft einen taktischen Vorteil verschaffen. Das sollte man beibehalten, man könnte aber bei der nächsten Eskalationsstufe ein paar Unterscheidungen einführen. Warum werden nicht persönliche Fouls und taktische Fouls unterschieden? Bisher gibt es in beiden Fällen dieselben einfachen Konsequenzen: Gelb, Gelb-Rot oder Rot. Nur was kann der Torwart dafür, dass sein Mittelstürmer den gegnerischen Innenverteidiger ohrfeigt? In diesem Fall könnte man dem Mittelstürmer Rot zeigen, aber er dürfte zulasten des Wechselkontingents durch einen Spieler von der Bank ersetzt werden. Anders sähe es bei Fouls aus, die der Mannschaft einen Vorteil bringen: Notbremsen, taktische Fouls und so weiter. Sieht ein Spieler hierfür Rot, wäre es weiterhin in Ordnung, die Mannschaft als ganze zu bestrafen und in Unterzahl spielen zu lassen.

Gar nicht so schwer: Ein korrekter Einwurf...Hätte man dieserart persönliche Strafen und Strafen für die Mannschaft getrennt, könnte man sich gleich auch für mehr Strenge im Fußball einsetzen. Fußballer wirken oft wie eine Horde verzogener Kleinkinder, die nur mit klaren Regeln und strikten Konsequenzen zu bändigen sind. Zeitschinden, den Ball noch ein Meterchen vorlegen, einen Einwurf hinauszögern, nach dem Abseitspfiff noch aufs Tor schießen... Auch für diese Unsitten gibt es Lösungen, die sich der Fußball in anderen Sportarten abschauen kann und die sich teils sogar in der Bambini-Liga einführen ließen. Im Handball gilt der schlichte Grundsatz, dass kein Spieler den Ball berührt, sobald der Schiedsrichter das Spiel unterbrochen hat. Die Strafe bei Zuwiderhandlung: zwei Minuten Zeitstrafe. Fußballer hingegen tragen im Rückwärtsgehen den Ball noch ein bisschen spazieren, um ihn dann möglichst so zum Gegenspieler zu werfen, dass dieser größtmögliche Mühe hat, das Leder zu fangen. Hier könnte man sofort die Gelbe Karte zeigen. Das würde das Spiel beruhigen und dem Schiedsrichter ein Stück Autorität zurückgeben. Unser Wunsch für die Zukunft: Sobald der Schiri pfeift, ist der Ball für Spieler tabu und wird erst wieder von einem Kicker berührt, wenn der Schiedsrichter die Erlaubnis erteilt hat.

Auch beim Einwurf könnte man streng sein: Jeder Spieler kann einen regeltechnisch sauberen Einwurf ausführen, nicht nur die Außenverteidiger. Es ist kein Hexenwerk. Und dann dieses Schauspiel! Spieler A holt sich den Ball aus dem Seitenaus, hält ihn schon so, als wolle er werfen, doch dann fällt ihm offenbar ganz spontan ein, dass Spieler B viel besser einwerfen kann. Also schmeißt er den Ball zu Spieler B, damit der den Einwurf ausführt. Bei jeder dieser Situationen könnte man sofort auf falschen Einwurf entscheiden.

Oder man macht diese Marotten gleich mehr oder minder überflüssig, denn oftmals – nicht immer – dienen sie nur einem Zweck: dem Zeitmanagement. Das gibt es in unserem Fußball der Zukunft nicht, denn da wird nach effektiver Spielzeit gespielt, zweimal 30 Minuten. Sportarten, die mit effektiver Spielzeit gespielt werden, sind oftmals weitaus schneller als der Fußball. Angst, dass sich eine Mannschaft bei einer Minute Restspielzeit und knapper Führung hinten nur den Ball zuschiebt, muss niemand haben. In diesem Fall würde vom gegnerischen Team brutales Pressing gespielt, um den Ball entweder zu erobern oder einen Pass ins Aus zu provozieren – was die Uhr anhalten würde.

Technik ist nichts Böses: Für die Möglichkeit des Videobeweis

Die technischen Voraussetzungen für diese Änderung sind jedenfalls vorhanden, und natürlich lassen sich noch mehrere ähnliche denken. Seit 20 Jahren sind die Fußballregeln mehr oder weniger unverändert. Die letzte große Regeländerung war die Einführung der Rückpassregel, die Torhütern plötzlich fußballerisches Talent abverlangte, und seitdem sind die technischen Möglichkeiten schier explodiert. Warum also nicht das letzte heiße Eisen an den Stammtischen anpacken, den Videobeweis?

Hätte man damals eine Torkamera gehabt...Hier würden wir vieles befürworten, was dazu führt, dass tatsächlich auch die am jeweiligen Tag bessere Mannschaft gewinnt. Glücklicherweise ist der Widerstand gegen die Torkamera mittlerweile so abgeebbt, dass sie nicht nur bei großen Turnieren eingesetzt wird, sondern sukzessive auch in den nationalen Wettbewerben Verwendung findet. Aber zumindest im Profifußball ist noch mehr drin: Warum sollte nicht alles überprüft werden können, was objektiv zu entscheiden ist? Stand ein Spieler beim Tor im Abseits? War der Ball vor der Flanke im Toraus? Wurde der Ball mit der Hand gespielt? Den Trainern die Möglichkeit zu geben, etwa einmal pro Halbzeit eine klar formulierte Frage klären zu lassen, würde den Anteil der wesentlichen Fehlentscheidungen vermutlich drastisch minimieren, ohne am Charakter des Spiels großartig etwas zu verändern.

Auch hier gibt es den konservativen Einwurf, wonach Fehlentscheidungen ja zum Fußball dazugehören würden und ohne sie etwas fehlen würde. Doch Fußball lebt nicht von Fehlentscheidungen, sondern von gelungenen Spielzügen, kluger Taktik und letztlich von regulär erzielten Toren. Ein Abitur lebt auch nicht davon, dass man eine Niete in Mathe war – und ein Text wird nicht besser, wenn er extra viele Tippfehler enthält. Wir alle haben den Fußball nicht zu lieben begonnen, weil Borussia mal durch eine Fehlentscheidung glücklich gewonnen hat, sondern wegen der Leidenschaft auf dem Platz und auf den Rängen.

Wir glauben: Regeltechnisch steckt der Fußball noch in der Steinzeit und kann sich bei anderen Sportarten viele positive Dinge abschauen, ohne an Faszination zu verlieren. Deshalb bleibt die Hoffnung, dass der Alptraum von oben für uns irgendwann mal gut ausgeht: Mit dem Elfmeter zum 2:1-Siegtreffer.

Scherben/Desperado09, 22.07.2015

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