Fahnen auf der Süd Fahne gut, alles gut?
Die Diskussion ist fast so alt, wie die Ultra-Bewegung, doch hin und wieder flammt sie stärker auf und gerade ist so ein Moment, an dem man mal wieder die Frage stellen kann: Fahne gut, alles gut?
Es ist der 21. Mai 2005, kurz vor Anpfiff des letzten Spieltags einer wahrhaft denkwürdigen Saison. Vielleicht die bemerkenswerteste überhaupt in der Geschichte von Borussia Dortmund.
Es ist genau zwei Monate und eine Woche nach Molsiris, dem dunkelsten Tag der fast 100jährigen Vereinsgeschichte. Als die Mannschaft aufs Feld läuft, werden auf der Süd tausende Doppelhalter präsentiert. Es ist ein unglaublicher Anblick und die Geburtsstunde der weltberühmten gelben Wand. Das Spruchband unten an der Süd ist viel zitiert und fast schon Teil des Vereins geworden, doch keiner, der damals nicht dabei war, kann wissen, wie sehr dies aus dem Herzen kam: „Am Ende der dunklen Gasse, erstrahlt die gelbe Wand“ - wir hatten es überstanden, wir lebten noch!
Dieses Gefühl hat für eine ganze Weile auch eine ziemlich einmalige Atmosphäre geschaffen in der Fanszene, ein Gefühl des „wir gegen den Rest der Welt“ oder „gemeinsam durch dick und dünn“. Anfang der 2000er wurde manchmal - wie heute auch immer gerne mal wieder - das Gefühl geäußert, dass man vielleicht mal absteigen sollte, damit die ganzen Erfolgsfans verschwinden. Der Effekt von Molsiris war jedoch mehr als ein Abstieg. Es ist nichts vergleichbar mit diesem Gefühl, dass man gerade noch so überlebt hat. Dass man ein paar Zentimeter (oder Euro) davon entfernt war, seinen Verein komplett zu verlieren. Nichts bringt so viel neue Perspektive in eine Fanszene.
Dass danach auch sehr schnell die Erfolge kamen und man 8 Jahre später im Wembley im CL-Finale stand, zwei Meisterschaften und einen Pokal im Gepäck, hat das noch tausendfach verstärkt. Das Märchen von Phoenix aus der Asche wurde wahrhaft lebendig.
Auch wenn wir Wembley gerade erst wiederholt haben (und auch das zweite Mal war unglaublich!), das Gefühl von Zusammenhalt und Einigkeit ist lange abhanden gekommen. Der Erfolg hat neue Kundschaft angelockt und die alte verwöhnt. Auch wenn das Westfalenstadion weiterhin einzigartig ist, ein unglaubliches Gespür für Situationen hat und eine überirdische Stimmung erzeugen kann, ist der Zusammenhalt selbst auf kleine Bereiche wie Block Drölf bezogen, sehr bröckelig. Man schimpft gerne auf die andern, sucht die Schuld bei allen, außer sich selbst oder ruft einander zu, um es mal mit einem berühmten Zitat aus dem Süden (dem anderen Süden) zu sagen: „Für die scheiss Stimmung seid ihr doch verantwortlich!“
Ich wünsche mir oft, dass jeder sich ein bisschen an die eigene Nase fassen könnte, wenn es darum geht, wie man die Stimmung verbessert. Aber hier und heute möchte ich doch auch mal deutliche Kritik üben.
Ich stehe seit 2005 am gleichen Ort auf der Süd, in Block 13, relativ weit oben. Ich habe gegen Rostock voller Bewunderung und Stolz auf die Doppelhalter um mich herum geschaut und auch kurz einen gehalten. Ich mag den Anblick der Süd mit den vielen Fahnen auch heute noch sehr.
Auf der Süd zu stehen bedeutet für mich, mitten im Geschehen zu sein, Stimmung zu machen und Stimmung zu genießen, dazu gehören auch Fahnen, Schals und wenn man 1.65m groß ist normalerweise auch ein Ellbogen im Gesicht, ein Hinterkopf im Blickfeld und Wadenkrämpfe vom Zehenspitzenstehen. Kein Problem, ich erhebe nicht den Anspruch, 100% vom Spiel zu sehen, sonst würde ich mir ne Sitzplatzkarte kaufen.
Süd heißt Masse, Enge, Bierdusche, hüpfen, singen und Fahne schwenken. Ich ziehe alte Kleider an, Dusche lieber nachher als vorher und lasse alles, was zerbrechlich ist, zuhause. Süd ist laut, dreckig und ein wunderbares Puzzle aus Klängen, Blicken und Emotionen.
Seit einigen Monaten jedoch, fehlt ein zentraler Bestandteil: das Spiel. Wenn auch nicht der einzige Grund, zum Fußball zu fahren, sehe ich es doch immer noch so, das normalerweise das Fußballspiel das zentrale zusammenführende Element des Stadionbesuches ist. Seit es mit den Fahnen und deren Größen Überhand nimmt, ist dies jedoch kaum mehr zu verfolgen. Ich kann die Torszenen, die ich in dieser Saison deutlich sehen konnte (Standards ausgenommen) an meinen beiden Händen abzählen. Keine davon habe ich verpasst, weil ich nicht an meinem Platz war oder nicht aufs Feld geschaut habe. Es war nur eifach immer ne Fahne im Weg. Eine so große, so träge Fahne, dass die komplette Sicht auf beide Strafräume während des Schwenkens wegfällt. Und geschwenkt wird fast durchgehend. Das finde ich so nicht ok. Ich hoffe ich habe deutlich gemacht, dass ich nicht den Anspruch erhebe, das ganze Spiel zu sehen, aber der Großteil der Strafraumszenen solange das Spiel weniger als zwei Tore Differenz aufweist, wäre doch ganz nett.
Es muss die Möglichkeit geben, einen Kompromiss zu finden zwischen dem optischen Aspekt der Fahnen, der definitiv nicht von der Hand zu weisen ist, und der Möglichkeit, dass ich und viele, viele andere, Torjubel nicht secondhand erleben müssen, weil wir aufgrund der Sichteinschränkungen nur jubeln, weil andere jubeln, nicht weil wir tatsächlich ein Tor gesehen haben. Bei aller großen Liebe für Fankultur und die Notwendigkeit diese um jeden Preis zu erhalten (echt, voller Support meinerseits!), bin ich doch im Stadion, weil ich Borussia Tore schießen sehen will. Und Fahnen sollten nicht der Fahne Willen geschwenkt werden.
Oder um im Sprech der 00er Jahre zu bleiben: „Die Fahne muss weg!“ - zumindest wenn’s spannend wird…
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