Es ist der 28.05.1997 – ein Datum welches jeder BVB Fan kennt. Mein Vater und ich schauen uns ungläubig an. Es ist Halbzeit im Olympiastadion und wir führen mit 2:0 gegen Juventus Turin. Ich könnte hier unzählige kleine Geschichten von diesem Tag erzählen. Vom Fan unter dem Olympiaturm, der 2000 Mark bot für ein Ticket. Von der alten, eigentlich kaputten BVB-Armbanduhr, die plötzlich wieder lief. Vom teuren Strafzettel, welchen ich auf der Autobahn durch zu schnelles Fahren auf der Rückfahrt erhielt, oder vom Juve-Fan, der mir seinen Schal schenkte nach dem Spiel. Es gibt so viele Geschichten, doch die, von der ich heute erzählen möchte, hat eben mit dieser Halbzeit zu tun und warum mir das so wichtig ist.
Ob Andre Rieu vor dem Spiel musiziert hat oder in der Halbzeit, daran erinnere ich mich nicht mehr genau. Ich sehe ihn aber noch im Mittelkreis stehen mit seiner Geige, spielend zu einem Playback Song. Was ich aber immer noch hören kann, ist der Gesang der italienischen Tifosi dazu – er war laut. Er hatte sie dazu bewegt mitzugröhlen und ihre italienischen Fahnen zu schwingen. Die Antwort der BVB Fans? Die kam eben in der Halbzeitpause. Die ersten Takte von „Major Tom“ waren über die Lautsprecher zu hören und es kam Bewegung in die Kurve. Schnell wurde klar: hier wird das Stadion jetzt gerockt, so wie schon beim Halbfinale gegen Manchester, als erst die Engländer im Westfalenstadion „I feel good“ sangen und die Südtribüne „Mit Pfefferminz bist du mein Prinz“ geantwortet hat (da hätte ich mir einen anderen Song gewünscht, aber er wurde nun mal gespielt). „Vöööööliiig losgelöööööst…“ – lange bevor es zur aktuellen deutschen Torhymne wurde, sangen wir es lautstark in den Münchener Abendhimmel. Arm in Arm mit meinem Vater. Eine wunderbare Erinnerung. Von da an sang er den Song immer mit, freute sich, wenn er im Radio lief oder ich ihn beim Karaoke für ihn aufrief.
Ein Leben in Schwarzgelb – und ein Abschied voller Dankbarkeit
Am 29.10. ist er gestorben. Seit seiner Kindheit feuerte er den BVB an, damals noch im Stadion „Rote Erde“. Sein Onkel Hans war schon was älter, genehmigte sich in Barop immer ein paar Bier und Schnaps vor dem Spiel. Mein Vater bekam dann „einen Cola“. Hans nahm meinen Vater immer mit, er selbst hätte das Geld dafür damals gar nicht gehabt. Er hat die Titel in den 50ern als Jugendlicher erlebt, den Triumph 1966 vor dem Schaufenster eines Geschäftes gemeinsam mit anderen Fußballbekloppten. In den Siebzigern war er beim Wiederaufstiegsspiel gegen Nürnberg im Stadion, brüllte so laut Tor, dass er keine Luft mehr bekam. 1976 nahm er dann seinen Sohn – mich – das erste Mal ins Westfalenstadion mit. Zuvor waren wir schon bei Rot-Weiss Essen, sozusagen der Testlauf vor dem großen Stadion.
Wir standen oft auf der Nordtribüne, was unser fester Platz sein sollte, bis ich 14 wurde. Dann durfte ich endlich mit seiner Genehmigung auf die Südtribüne – mit meinen Freunden und meinem Cousin. Vater zog sich zurück, wollte mich nun meine eigenen Erfahrungen sammeln lassen. Aber egal wie und wann der BVB spielte, nach dem Spiel haben wir uns getroffen, gefachsimpelt über Spieler, Aufstellung und Schirileistungen, denn er pfiff auch selbst noch. Durch den Schiripass kam er manchmal noch für den „Sportgroschen“ ins Stadion und nahm mich für einen „Heiermann“ in die Hand des Ordners gleich noch mit. Jedes vierte Spiel etwa war er mit mir gemeinsam da, dann haben wir meistens gesessen.
1989 waren wir zusammen beim Halbfinale gegen Stuttgart, was ein besonderes Spiel: Nikolic gegen Klinsmann, selten wurde ein Weltklassestürmer so von einem Amateur abgemeldet. Meine Mutter stellte sich später viele Stunden an und schaffte es, drei Finaltickets für Berlin zu kaufen – unser erster gemeinsamer Titel im Stadion damals. Bei der Meisterschaft 1995 hatte mein Vater keine Eintrittskarte, ich hatte mich auf die Ost verkrümelt, da ich durch den Zivildienst nicht mehr rechtzeitig auf die Süd kam. Mit kleiner Unterbrechung sitze ich seit damals dort, habe nur den Block Anfang des Jahrtausends gewechselt. Nach der Stadion-Feiererei 95 gemeinsam mit den Hamburgern hatte ich die Wahl: ab in die Innenstadt zum endlosen Feiern? Oder fahre ich heim zu meinem Dad, der das Spiel auf Premiere verfolgt hatte? Ich musste nicht lange überlegen, es ging gen Witten und mein Vater freute sich sichtlich, dass ich zu ihm gekommen war. Ein Jahr später verteidigte der BVB den Titel, wieder hatte mein Vater keine Karte für das letzte Heimspiel bekommen. Der BVB war schon Meister bei 1860 München geworden, es war eine andere Situation. Doch diesmal überraschte er mich, er stand vor der Süd mit ein paar Dosen Bier in der Hand: „Lass uns Feiern gehen Junge!“ Und das taten wir.
Weitere Highlights aus dem Uefa-Cup, der Bundesliga oder selbst Pokal habe ich in schöner Erinnerung, würden den Rahmen hier jedoch sprengen. Die erste Meisterschaft, die wir gemeinsam erlebt haben, war dann 2002. Irgendwie noch zwei Tickets ergattert und das Spiel in Block 12 erlebt. Mein Vater war nur 1.74 groß, er hat das entscheidende Tor kaum gesehen, aber ich erinnere mich noch gut, wie eng wir auf der Süd da standen, so voll hatte ich es nur ganz selten erlebt. Weitere Titel folgten, aber der erste Titel in Berlin und natürlich der CL-Triumph in München, die haben sich am meisten auf meine Festplatte gebrannt, denn ich war mit ihm da. Das nimmt mir keiner mehr, diese Erinnerungen.
Als der BVB die Möglichkeit hatte vor zwei Jahren den Titel zu holen, war mein Vater schon schwer krank. Ich wusste, es würde die letzte Chance sein, dass wir zusammen einen Titel des BVB feiern. Es kam anders, wie wir alle wissen. Langsam ging er am Gehstock mit mir zum Auto. „Sei nicht traurig, dafür holen wir nächstes Jahr halt die Champions League“, sagte er mit einem Augenzwinkern. Und er hatte fast Recht damit, nur der Pfosten verhinderte Füllkrugs Tor.
Nach zweieinhalb Jahren Kampf gegen den Krebs ist er nun friedlich eingeschlafen. Seine letzten Worte an mich: „Bring drei Punkte mit!“, dann ging ich von seinem Bett ins Stadion gegen Köln. Ich habe das erste Mal im Stadion für ein Tor gebetet. Nicht zum Fußballgott wie so oft – sondern wirklich gebetet für meinen Papa. Maxi Baiers Tor habe ich gefeiert wir kaum einen anderen Treffer – Papa ich bringe die drei Punkte mit! Die hat er auch noch mitbekommen, das Pokalspiel gegen Frankfurt konnte er schon nicht mehr miterleben.
Ich bin ihm so dankbar, dass er mich zum Borussen gemacht hat. Er hat den Fußball nie so ernst genommen wie ich in jüngeren Jahren. Mit dem immer mehr aufkommenden Geld fand er auch deutliche Worte für diese Entwicklung. Aber wenn der Ball rollte, dann war er Feuer und Flamme. Im Stadion saßen wir oft minutenlang vor den Spielen einfach nur da, gesprochen haben wir nicht viel. Das brauchten wir auch nicht. Wir genossen einfach die Zeit zusammen am schönsten Ort der Welt, sogen die Atmosphäre in uns auf.
Was bleibt – und wem wir Dank schulden
Ich bin jetzt nur einer von vielen, bei denen der Platz daneben „leer“ bleibt – nicht wirklich leer, denn es wird immer jemand dort sein, meine Frau, meine Mutter, Freunde, Arbeitskollegen. Irgendjemand wird mich immer begleiten. Aber nicht mehr mein Vater. So erging und ergeht es noch vielen, die mit ihren Familienmitgliedern ins Stadion gehen oder gingen. Das kommende Heimspiel gegen den VfB Stuttgart wird für mich schwer. Einen Tag vor meinem Geburtstag gehe ich in Stadion – ohne ihn. Während wir den Spielern und Verantwortlichen des BVB oft gedenken, sind es für meinen Vater nur wenige Leute, die ihn im Stadion kannten und an ihn denken werden.
Was mir im Laufe der letzten Tage aber auch klar wurde: Es werden immer weniger Menschen, die den BVB noch im alten Stadion haben spielen sehen. Die zum BVB gegangen sind, als es noch nicht um das große Geld im Fußball ging, Die den Schmerz des Abstiegs in den Siebzigern verwinden mussten. Die sich die Pfennige und Mark für den Eintritt sprichwörtlich vom Mund abgespart haben. Diesen älteren Fans gebührt mehr denn je der Respekt, wenn sie mit Gehstock, Rollator oder Rollstuhl immer noch in unserem wunderbaren Stadion sind.
Mein Vater hat sein letztes Heimspiel im Stadion gegen den VfL Wolfsburg gesehen, es war für ihn eine körperlich unfassbare Anstrengung (auch weil er die lange Treppe hochgehen musste an der Süd zur Ost, da der Aufzug auf der unteren Ebene nicht erreicht werden konnte). Aber er hat es geschafft. So haben wir gemeinsam nochmal einen Sieg genossen und sein glückliches Gesicht nach dem Spiel im Auto werde ich niemals vergessen. Es gehört zu den schönsten Momenten, an die ich mich fortan erinnern werde.
Und an Major Tom – bei dem ich immer die tiefe Stimme meines Vaters höre, wenn er versucht, den Text komplett mitzusingen und wieder mal scheitert, nur um dann im Refrain wieder laut mitzusingen. Ich wünsche allen, die ihre Liebsten in diesem Jahr verloren haben viel Kraft. Und allen älteren BVB-Fans, die sich mühevoll ins Stadion schleppen, um unseren BVB siegen zu sehen: DANKE, dass ihr so lange schon Daumen drückt für die schwatzgelben Farben! Vielleicht sehe ich euch von nun an mit noch mehr Respekt auf dem Stadionweg, als ohnehin schon.
18.11.2025, Markus
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