Unsa Senf

Eine Achterbahnfahrt der Gefühle

22.09.2020, 06:11 Uhr von:  DocKay
Eine Achterbahnfahrt der Gefühle

Es war alles sehr kurzfristig und überforderte mich zunächst in der Entscheidungsfindung. War es ein schlechter Traum oder Wirklichkeit? Hatte ich mir das alles nur eingebildet oder irgendwo doch erwünscht? Gerade war die Nachricht gekommen, dass die Saisoneröffnung der Bayern gegen die Blauen ohne Zuschauer stattfindet. Klar habe ich mir gedacht:“ Wer will denn schon die Blauen in der jetzigen Verfassung gegen die Bayern sehen?“ Doch plötzlich tickerte die Nachricht über den Äther, dass die Saisoneröffnung unseres BVB gegen die Fohlen vor 10.000 Zuschauern im schönsten Stadion der Welt stattfinden kann. Ich war mir unsicher, das Angebot anzunehmen, war doch der Abstand vom Profifußball und der Bundesliga in den vergangenen Monaten immer größer geworden. Gleichzeitig hatte ich bemerkt, dass es mir immer schwerer fiel, dieses Gefühl in Worte zu fassen. Ich musste eine Entscheidung treffen.

In der Redaktion war es in der nahen Vergangenheit immer wieder zu unterschiedlichen Interpretationen gekommen und auch ich sah zurückblickend die Entwicklung des Profifußballs mit gemischten Gefühlen. Da wir als schwatzgelb.de auch Fanclub sind, standen uns für das Spiel gegen die Borussia vom Niederrhein zwei Karten zur Verfügung. Ich beschloss, mich aus Unsicherheit im Vergabeverfahren als Dauerkarteninhaber selbst zu bewerben. Im Rahmen des Gedankenspiels bemerkte ich zu meiner eigenen Überraschung, dass ich unbedingt dabei sein wollte, auch um meine Gefühle für den Fußball nach Corona einzuordnen und das Ganze mit euch zu teilen. Hatte ich vor kurzem noch aus Frustration meinen SKY-Vertrag gekündigt, überraschte mich dann doch mein Handeln nach dem Absenden des Formulars zum Erwerb eines Tickets. Ich weiß nicht, wie oft ich in mein Postfach geschaut habe, aber die Tatsache, dass ich es getan habe, zeigte mir, dass das schwarzgelbe Herz schneller zu schlagen begann.

Die offizielle Zuschauerzahl

Am Morgen des 18. September um 09.59 Uhr war es dann soweit. Von tickets@bvb.de kam die Nachricht: Vielen Dank für ihren Ticketkauf. Sicherheitshalber hatte ich noch die Alternative Nordtribüne angegeben, aber ich hatte ihn, den „Sitzplatz“ auf der Südtribüne nahe meiner Heimat auf Block 14. Mit Maske durfte ich Platz nehmen in Block: 11 Reihe: 29 Sitz: 1. Mein Einlass war zwischen 17.30 Uhr und 17.45 Uhr am Eingang SÜDOST. Ich wollte sofort das Ticket ausdrucken, als mein Drucker streikte. Er hatte sich für die Schriftfarbe blau und nicht für schwarz entschieden. Zum Glück hatte ich Ersatzpatronen. Sicherheitshalber druckte es ein Nachbar zusätzlich für mich aus. Schließlich sollte meine Freude nicht am Drehkreuz enden. Ich konnte es nicht fassen, ich war wieder in der Fußballwelt angekommen. Hätte mir das vor einigen Tagen jemand gesagt, ich hätte ihn mit Blicken bestraft. Jetzt war es an der Zeit, sich die Spielregeln für einen sicheren Stadionbesuch durchzulesen. Zum Glück konnte ich zu Fuß gehen, mein Anmarschweg zum Westfalenstadion dauerte gerade einmal eine „Bierflasche“. Die würde ich mir gönnen. Hatte ich vor kurzem noch keine Lust, mir Fußball im TV zu sehen, jetzt wollte ich dabei sein. Die schwarzgelbe DNA war wieder spiralförmig. Es bedeutete für mich die Rückkehr in ein kleines Stück Normalität, wie der Besuch bei Sebastian Pufpaff im Schalthaus 101 vor einer Woche auf Phönix West. Plötzlich sah ich die Welt mit anderen Augen. Ist das Leben nicht wunderschön? Ein bisschen war ich schon in der Weihnachtszeit angekommen. Scheiß egal, schließlich gab es ja auch schon Dominosteine und Lebkuchen. Ich fing an, den Samstag zu planen und schaute mir noch einmal das Video „Was auch immer geschieht“ auf Facebook an.

Vereinzelte Fans auf dem Weg in den Tempel

Der Morgen des 19. Septembers verlief, als hätte es nie eine Corona-bedingte Auszeit gegeben. War das Datum 19.09. ein gutes Omen? Die Rituale waren die gleichen wie früher. Aber ich konnte später losgehen, denn schließlich fiel das übliche Treffen mit meinen Kumpels vom Fanclub „Borussenstern“ auf dem Parkplatz Corona-bedingt aus. Ein bisschen Wehmut kam auf. Ach ja, und dann musste ich noch meine neue Brille bei M.S. abholen, um im Stadion einen besseren Durchblick zu haben. Hätte ich ein schwarzgelbes Trikot auf dem Westenhellweg gesehen, ich hätte es fotografiert! Auch der älteste Platz der Stadt, der Alte Markt, zeigte um 13.30 Uhr keine einzige schwarzgelbe Farbe: ich begann zu zweifeln. Mein Rückweg führte mich über die Hohe Straße. In einer Apotheke gab es einen „Spieltagsrabatt“, den wollte aber keiner auf der leeren Ladenfläche in Anspruch nehmen. Wieder kamen Zweifel auf. Sollte ich mir das heute Abend wirklich antun? War das der Fußball, wie ich ihn liebte?

Als Einstimmung trank ich wie immer auf dem Balkon ein Bier. Es war ein Festbier, zum Glück aus meiner Heimat, aus Frankenthal in der Pfalz. Ich schrieb einige WhatsApp-Nachrichten mit Astrid vom SCHALKE UNSER. Sie hatte nach 10 Minuten, aus uns bekannten Gründen, am Vorabend die Flimmerkiste ausgemacht. Clemens Tönnies war auf Einladung des FC Bayern in der Allianz Arena, sie war dem Kotzen nahe. Die Funktionäre saßen ohne Maske direkt nebeneinander, gemäß der bayerischen Verordnung, beispielhaft wie immer, aber nicht konform mit den Hygiene-Richtlinien der DFL. Jetzt wurde auch mir wieder klar: Corona wird an diesem ganzen Filz und seinen Machenschaften aber rein gar nichts ändern. Nur unser geliebter D. Hopp könnte hier noch das Trio komplettieren. Ich beschloss, mich in diesem Punkt mit Astrid solidarisch zu zeigen und begann mit ihr zu kotzen. Gleichzeitig überwog das Gefühl in mir, das mich leitete und mir mitteilte: „Schau dir das Spiel heute Abend an“.

Warteschlange für die Bratwurst

Um 15 Uhr legte ich meine Klamotten zurecht. Ich entschied mich für die 1a-Kollektion, denn mit Bierduschen war ja heute nicht zu rechnen. Kurz nach 15.30 Uhr fiel mir ein, dass ja schon Bundesliga auf SKY lief, hätte ich fast vergessen. Als ich einschaltete, fiel gerade das 1:0 für Hoppenheim beim Festkomitee in Köln. Es kam knüppeldick für den Effzeh! Geisterspiel, kein Fastelovend und dann noch ein Jonas Hector out of order. Nach dem Ausgleich erlosch relativ schnell das Interesse an der Konferenz. Ich bereitete mich langsam mental auf den Stadiongang vor. Um 17 h war es dann soweit. Es ging zunächst Richtung Hohe Straße, wo ich die ersten vereinzelten Trikotträger sah. Einige wenige trauten sich, an den Kneipen sogar Pommes zu essen und ein Bier zu trinken. Mir wurde noch einmal klar, dass es die Gastronomie im Moment wirklich knüppeldick traf. Aber auch nicht die Spur von einer Festtagsstimmung.

Fanaufkommen an der Westfalenhalle

An den Westfallenhallen wurden es dann einige Fans mehr. Wie schön, es war kaum Polizei zu sehen. Geht doch. Ein bisschen ungemütlich wurde es dann vor dem Eingang Südost. Mit dieser Warteschlange hatte ich nicht gerechnet. Es war inzwischen 17.25 Uhr. Einige wenige konnten sich nicht zwischen Zigarette und Mundschutz entscheiden. Für die Pfandpiraten war der Begriff gänzlich fremd. Die Masse vor den Gittern hatte bei 1,50 Metern im Schulunterricht nicht aufgepasst. Dieses Defizit kann man mit entsprechendem Personal sicher noch verbessern. Nach Abgleich der Daten war die Situation am Drehkreuz dann durchaus entspannter, auch wenn das Lesegerät mein optimal ausgedrucktes print@home Ticket zunächst ignorierte, warum auch immer. Zum Glück gab es am Ende ein neueres Gerät und dies verschaffte mir den Zugang. Irgendwie war ich schließlich froh, an meinem Platz 1 zu sein. Sollte dies ein gutes Omen für die Saison 2020/2021 sein? Heute gab es die ersten Antworten.

Ausblick von der Südtribüne

Ich blieb zunächst wie immer stehen und inspizierte meine Umgebung. Zu meiner Ernüchterung musste ich feststellen, ich kannte keinen Menschen. Der Blick auf die Tribünen warf die Frage auf: Waren das schon alle Zuschauer oder würde sich das Stadion noch etwas füllen? Kurz vor Spielbeginn herrschte Klarheit, das Stadion war „ausverkauft“. Auf den Anzeigetafeln wiederholten sich die Verhaltensregeln. Ein wenig Normalität kam auf, als die Mannschaft den Rasen betrat. Da waren sie, die alten Gesänge, die ich schon fast vergessen hätte. Es kam etwas Stimmung im weiten Rund auf. Jeder gab sich Mühe, aber irgendwie wirkte es verkrampft. Sehr schnell wurde klar, dass der Getränkeverkäufer nur Cola light im Ausschank hatte. Eine weitere Ernüchterung. Pünktlich um 18.30 Uhr begann das Spiel und nach kurzer Zeit stellte ich in meiner Umgebung fest, dass niemand so richtig wusste, ob er sich sitzen oder stellen sollte. Das Spiel begann sehr ausgeglichen und man musste lange auf die ersten Höhepunkte warten. Die Stimmung wurde lauter und zwischenzeitlich war es schon bemerkenswert, wozu offizielle 9300 Zuschauer in der Lage waren. Man hatte auch das Gefühl, dass die Spieler die Anwesenheit der Fans zu schätzen wussten. Der Torschütze Giovanni Reyna drückte dies in einem späteren Interview genauso aus. Durch sein Tor ging es mit 1:0 in die Halbzeit. Mein Fazit der ersten Halbzeit war, dass es in diesem Leben keine Männer-Freundschaft zwischen Felix Brych und mir mehr geben wird. Die zweite Halbzeit zeigte dann die Effektivität unseres Sturmes und brachte auch den ersten Videobeweis der neuen Spielzeit. Die Analyse brachte für mich dann überraschenderweise trotz meines Lieblingsschiedsrichters, für den im nächsten Jahr Schluss ist, die Elfmeterentscheidung. Vom Punkt und später aus dem Spielverlauf heraus machte Haaland dann den Deckel drauf.

Das Spiel ist aus

Irgendwie war ich nach dem Abpfiff froh, dass der geordnete Auslass begann. Der Weg nach Hause war kurz, um 20.50 Uhr betrat ich das Treppenhaus. Hinter mir lag ein Stück Fußballnormalität. Aber weder auf dem Rasen noch auf den Rängen war das Maximum erreicht worden, verständlicherweise. Alle schienen verantwortungsvoll mit der Situation umgegangen zu sein. Froh war ich auch, dass ich mich für die Kartenzuteilung beim nächsten Heimspiel erst einmal hinten anstellen muss. Das lässt mir den Spielraum für weitere Gedankenspiele. Nein, das war und ist noch nicht mein Fußball. Ich weiß für mich auch nicht, was in Zukunft passieren wird. Zunächst wird es ein Wechselbad der Gefühle bleiben oder wie es Boris Johnson beim ungeordneten Brexit ausdrücken würde: „A roller coaster of emotions“.

Auf dem Weg nach Hause

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