Unsa Senf

Der Break als Chance

03.06.2020, 11:45 Uhr von:  Caroline
Der Break als Chance

Ein wenig Selbstreflexion hat noch niemandem geschadet. Zwischen Luxusproblemen, Erwartungshaltung und Fußball-Overkill – was, wenn diese Corona-bedingte Zwangspause eine Chance ist?

Stell dir vor, es ist Fußball und keiner geht hin. Ungefähr so lässt sich die aktuelle Situation zusammenfassen. Und ich bin ehrlich: Ich gucke mir das nicht an. Und ja, hierzu kann es vollkommen unterschiedliche Meinungen geben, das ist legitim. Jeder kann und soll für sich selbst entscheiden, ob er sich diese Spiele anschauen möchte oder nicht. Ich tue es nicht.

Es gibt viele Gründe dafür: Die Heuchelei rund um die Entscheidung zur Fortführung der Bundesliga, die Widersprüchlichkeit des Hygienekonzepts, die Perversion der Tests, die Gefahr für die Gesundheit der Spieler… Aber selbst wenn ich das alles ausblende, fehlt diesen Spielen der entscheidende Faktor, das, was den Fußball für mich ausmacht: Die Emotionalität. Geisterspiele fühlen sich an wie Testspiele, nur, dass das Ergebnis tatsächlich gewertet wird. Es fehlt die Eruption der Freude, wenn der Ball im Netz zappelt.

Keine Frage, ich vermisse es. Von klein auf hat mich diese Leidenschaft gepackt. Bei mir war es, wie bei so vielen: Ich wurde da „reingeboren“. Man sucht sich seinen Verein nicht aus und zugegebenermaßen hatte ich viel Glück, dass es bei mir Borussia getroffen hat. Bis auf eine finanzielle Krise, die uns an die Klippe zur Insolvenz brachte, kann ich auf viele erfolgreiche Jahre zurückblicken.

Die bisher letzte Deutsche Meisterschaft für den BVB 2012

Ich erinnere mich noch ziemlich gut an die Aufregung vor meinem ersten Stadionbesuch in jungen Jahren. Ich erinnere mich auch noch genau an meine erste bewusst miterlebte Meisterschaft, als Ewerthon kurz nach seiner Einwechslung das Leder über die Linie drückte. Ich erinnere mich auch an die dummen Sprüche auf dem Bolzplatz, als es um den BVB gar nicht gut stand. Ich erinnere mich an die fast schon märchenhafte Wende und die Entwicklung unter Jürgen Klopp. Ich erinnere mich an die unfassbare Leere nach dem Abpfiff des Champions League-Finals 2013. Und ich erinnere mich an die Jahre danach, die – obwohl man sportlich fast immer oben mitspielte und sogar einen weiteren Pokalsieg feiern konnte – nie in einem Meistertitel mündeten und so zunehmend von Enttäuschung und Unzufriedenheit geprägt waren.

Paradox, oder? Wo man doch eigentlich weiß, was es heißt, am Abgrund zu stehen, hat man heute das Luxusproblem „nur“ Zweiter zu werden, sich „nur“ für die Champions League zu qualifizieren. Natürlich kann man weder Ressourcen noch damit einhergehend die Erwartungshaltung mit früher vergleichen. Der BVB ist heute ein anderer Verein mit ganz anderen Möglichkeiten als noch vor 15 Jahren. Zudem schüren die 8 Jahre ohne Meistertitel eine Sehnsucht nach der Schale, die mit jeder „erfolglosen“ Saison steigt. So verständlich das auch ist, so toxisch scheint die Kombination aus Sehnsucht und Erwartung aber zu wirken, von der es sich zu befreien lohnt.

Der Fußball bietet so viel mehr. Mit den Jahren ist das Drumherum fast wichtiger geworden als das Geschehen auf dem Platz. Mit dem Zug zum Spiel oder am Spieltag zu Fuß zum Stadion schlendern, Freunde in der Roten Erde treffen, im Pulk von Menschen anstellen und sich jedes Mal über die Einlasssituation aufregen, unter der Tribüne entlang gehen und die erste Atmosphäre mitnehmen, auf in den Block und auf der Süd eskalieren. Diese besonderen Momente, in denen du dir die Lunge aus dem Hals schreist, wenn dir fremde Menschen in den Armen liegen und du weißt: Hier gehöre ich hin. Klingt kitschig, ist es auch. Aber es ist ziemlich großartig und deswegen liebe ich Fußball.

Leere Südtribüne in Zeiten der Pandemie

Natürlich bietet nicht unbedingt jedes Spiel diese Momente. Und vielleicht ist dem Fußball mit den Jahren auch etwas zum Verhängnis geworden – der Overkill an Spielen. Spieltage waren in der Regel nichts Besonderes mehr, sie waren geradezu inflationär. Und wahrscheinlich muss auch ich mir den Vorwurf gefallen lassen, dass ich einzelne Spiele nicht mehr sonderlich zu schätzen wusste. Und das, obwohl ich mir meines Privilegs, regelmäßig ins Stadion, auf die Südtribüne oder auswärts in den Gästeblock zu können, sehr wohl bewusst bin.

Somit bietet diese Corona-bedingte Zwangspause vielleicht auch eine Chance: Ich weiß bereits heute, dass es beim nächsten Spiel mit Fans positiv eskalieren wird. Diese unbändige Freude wird neu entfacht und sich dann auch auf den Rängen entfalten. Man kann nur hoffen, dass das Ganze wieder in einer größeren Mitmachquote münden wird, als es in den vergangenen Jahren der Fall war. Und so naiv der Gedanke auch sein mag, aber so wie wir den Fußball wieder mehr zu schätzen lernen, stellen vielleicht einige Funktionäre mit der Zeit auch fest, dass dieser sterile Fußball ohne aktive Fans nicht ganz so attraktiv ist und ihr Produkt gar an Wert verlieren lässt.

Football is nothing without fans.

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