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...Andreas Rettig (Teil 2): "200 Millionen werden da sicher nicht reichen"

30.05.2018, 09:34 Uhr von:  Nicolai cka Kevin Seb
...Andreas Rettig (Teil 2): "200 Millionen werden da sicher nicht reichen"
Andreas Rettig im Gespräch

Im zweiten Teil des großen schwatzgelb.de-Interviews mit Andreas Rettig spricht der Geschäftsführer des FC St. Pauli über Transparenz in der DFL, Holstein Kiel, 50+1 und seine ersten Schritte im Profifußball.

Im ersten Teil des großen schwatzgelb.de-Interviews mit Andreas Rettig sprach der Geschäftsführer des FC St. Pauli bereits über die Situation bei seinem Klub, die finanziellen Unterschiede zwischen den Ligen, die TV-Vermarktung und die Lizensierung von RB Leipzig.

schwatzgelb.de: Du hast schon verschiedene Positionen gehabt: DFL Geschäftsführer, aber auch Geschäftsführer bei größeren und kleineren Clubs: Köln, Freiburg, Augsburg, St. Pauli. Entscheidungen bei der DFL wirken immer nebulös und schlecht kommuniziert. Danach poltert dann Rummenigge, weil ihm das Ergebnis nicht passt. (Übrigens sehr schlagfertige Antwort!) Ist die Transparenz zu niedrig?

Andreas Rettig im Gespräch

Rettig: Der eine oder andere, der gar nicht bei der Mitgliedervollversammlung dabei war, hat sich nachher noch dazu geäußert, was sich denn ein mäßiger Zweitligist erlaubt, einen demokratischen Prozess anzustoßen. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Aber das gehört für mich zur Transparenz und auch die Streitkultur sowie ein ordentlicher Umgang damit, auch wenn es einem nicht gefällt. Wir haben auch Backpfeifen bekommen, als wir einen anderen Antrag (Verteilung der TV-Gelder, Anm. d. Red.) damals gestellt haben. Da wurde uns unterstellt, dass wir die Liga spalten wollen, was aber gar nicht unser Ziel war, sondern mehr Solidarität. Da haben wir am Tag der Entscheidung noch unseren Antrag zurückgezogen, weil es keinen Sinn mehr machte. Diese Diskussion konnten wir nicht mehr gewinnen, weil es medial so gesteuert wurde, dass es nicht mehr anders möglich war. Transparenz, um auf die Frage zurückzukommen, ist immer wünschenswert, aber man muss auch fair sein und sagen, dass man nicht alle Dinge, gerade im Lizensierungsverfahren, öffentlich machen kann. Ich glaube, das ist auch Borussia Dortmund zu Gute gekommen in der damaligen Situation (Finanzielle Schieflage um 2005, Anm. d. Red.). Ich sage das nur deshalb, weil man natürlich abwägen muss zwischen dem Öffentlichkeitsbedürfnis und dem Schutz der Verträge. Da kann man nicht alles gläsern machen. Man kann nicht alle Betriebsgeheimnisse offen legen. Der Lizenznehmer, ob Dortmund, HSV, St. Pauli oder RB Leipzig, muss darauf vertrauen, dass ein Verband mit den Daten vertraulich umgeht. Auch ich darf keine Betriebsgeheimnisse ausplaudern. Ich kann kommentieren, was öffentlich geworden ist, da habe ich keinen Kummer mit, aber einfach Dinge rausposaunen geht nicht. Da muss man schon fair sein. Das muss auch der Fan respektieren. Deswegen ist mir auch die Unterscheidung zwischen Hopp und Werksclubs wichtig, weil gerade in Dortmund diese „Fadenkreuz"-Kritik völlig am Thema vorbeiging. Dafür habe ich kein Verständnis. Man kann Proteste äußern und da gab es viele witzige Sachen, die gemacht worden sind, aber wenn es darum geht, solche Themen personalisiert darzustellen, kann ich damit nichts anfangen. Ich glaube, wenn man viele Dinge auf den Tisch legen würde, euch bzw. der Fanszene, alle Gründe nebeneinander legt und den Entscheidungsprozess erklärt, wären viele Entscheidungen trotzdem genauso getroffen worden. Man muss den Entscheidungsträgern da natürlich auch vertrauen, das sind ja keine dummen Jungs. Man glaubt oft, einen Sachverhalt beurteilen zu können, aber hat gar nicht alle Informationen vorliegen und dann kommt am Ende, da bin ich dabei, ein gewisses Misstrauen auf. Dadurch entsteht ein gewisser Unmut. Es gibt bestimmt Fälle, die man anders, besser und klarer lösen muss, aber es gibt eben auch Themen, wo es notwendig und sinnvoll ist, dass man nicht alle Karten auf den Tisch legt.

schwatzgelb.de: Du sagtest gerade, dass ihr den Antrag kurz vorher zurückgezogen habt, weil die Meinung medial gesteuert wurde. Von wem wurde die Meinung gesteuert und was bringt dich zu der Erkenntnis, dass dort eine bewusste Steuerung vorlag.

Rettig: Ich kann das ja sagen, weil ich seit Liga-Verbandsgründung im Jahr 2000 mit einer Unterbrechung immer im Vorstand war, bei Vereinen oder der DFL. Beim Poker bzw. Verteilungskampf der TV-Gelder saß ich am Tisch. Ich war gewählter Vertreter der „kleinen" Clubs. Ich habe immer gesagt, dass wir den Wettbewerb brauchen und ein wichtiges Steuerungsinstrument ist die Verteilung der Fernsehgelder, weil da viel Geld bewegt wird. Deswegen kann ich mir da ein Urteil erlauben. Karl-Heinz Rummenigge war damals Vorstandskollege bei den Verteilungskämpfen. Man muss sich mal die Mühe machen und seine Aussagen von vor 10 Jahren anschauen, wo er schon Dinge sagte wie „Die zweite Liga ist zu gierig", „Die zweite Liga darf den Bogen nicht überspannen", „Die Solidarität steht auf dem Spiel". Die Platte kann man alle vier Jahre auflegen. Immer, wenn es ums Geld und die Verteilung geht, kommen diese Aussagen. Wenn man sich die Situation jetzt anschaut, dann haben wir das Problem, dass bestimmte Medien, ich will jetzt mal keine nennen, aber es sind sehr auflagenstarke Medien im Sport, die mittlerweile auch täglich mit einer eigenen Ausgabe über den Sport berichten und ein Interesse daran haben, eher den Fokus auf Internationalisierung, auf Topstars und Glanz statt auf das Böllenfalltor zu legen, um das mal so auszudrücken. Das ist aus meiner Sicht ein Problem. Wir haben zu wenige Entscheidungsträger, die auch mal den Rücken gerade machen in dieser Frage und dann auch sagen, „pass mal auf, wir müssen mal die Stimme erheben". Ich muss sagen, ich fand das ein großartiges Zeichen beim 50+1 Antrag, dass im entscheidenden Moment auch Herr Watzke aufgestanden ist. Wir haben sehr viel Gas gegeben in der Versammlung und versucht uns darauf vorzubereiten, um das Thema in die richtige Richtung zu lenken, aber ohne die Hilfe von Herrn Watzke und im zweiten Schritt auch von der anderen Borussia wäre das sehr schwer geworden, die Mehrheit zu mobilisieren. Das war ein ganz wichtiges Signal, dass ein Vertreter, der einer der Topkräfte in dem „Zirkus" ist, sich klar für 50+1 positioniert. Das war ein ganz wichtiger Punkt. Wir haben am Ende zu wenige Entscheidungsträger, die sich klar positionieren. Ich finde auch, dass es der falsche Weg ist, nur noch über Internationalisierung und Globalisierung zu diskutieren, aber den nationalen Wettbewerb nicht mehr zu schätzen und nichts mehr dafür tun, dass wir national wettbewerbsfähig sind.

schwatzgelb.de: Um nochmal einen kleinen Schritt zur Transparenz zurückzugehen. Bei wirtschaftlichen Dingen und Lizensierung ist verständlich, dass man nicht alles kommunizieren kann. Bei 50+1 oder beim Videoschiedsrichter, auch bei der Entscheidung, dass alle Erstliga-Stadien ein Dach haben müssen oder kürzlich im Fall Kiel. Das sind keine wirtschaftlichen Geheimnisse, sondern Diskussionen, die in der Regel einfach als Entscheidung verkündet werden. Böse gesagt, könnte man behaupten, dass jemand aus seinem Elfenbeinturm tritt und etwas verkündet, wenn Rauch aufgestiegen ist.

Rettig: Da muss ich zu meinem Leidwesen die Leute aus dem Elfenbeinturm etwas schützen. Bei der Entscheidung (Kiel, Anm. d. Red.) hat sich die DFL vollkommen statutenkonform verhalten. Du brauchst eine gewisse Anzahl an Plätzen und da braucht man nicht Mathematik studiert haben, um zu erkennen, dass Kiel diese Anforderung nicht erfüllt. Das kann man ganz transparent darlegen. Diese Entscheidung ist im ersten Schritt keine willkürliche, intransparente Entscheidung, sondern sie ist zunächst mal statutenkonform. Ohne Wenn und Aber. Kiel überspringt nicht die Höhe in Sachen Infrastruktur, die wir uns alle selbst gesetzt haben. Jetzt komme ich zum Aber: Ich habe auch kein Verständnis für die Entscheidung (Das Interview wurde vor Erteilung einer Ausnahmegenehmigung geführt, Anm. d. Red.). Da sind wir wieder beim Abwägungsprozess. Ich kann nicht, wenn wir über einen sportlichen Wettstreit sprechen, die infrastrukturellen Anforderungen höher und bedeutsamer gewichten als die sportlichen. Das ist für mich ein Irrsinn, zu sagen, „ihr dürft deshalb nicht in der Bundesliga spielen, weil ihr nicht genügend Plätze habt". Das verstehe ich überhaupt nicht. Das ist eine außergewöhnliche Story, die Kiel zu bieten hat. Die waren noch nie in der Bundesliga. Ich hoffe, dass sie gute Argumente bringen, die nicht de jure verfangen, denn da haben sie keine Chance, aber hoffentlich weiche Argumente, die mehr auf die besondere Situation abheben. „Wir waren noch nicht in der Bundesliga und mussten diese Anforderungen nie erfüllen. Wir sind aber jetzt zweimal in Folge, also innerhalb kürzester Zeit, aufgestiegen und damit wird es erst zum Problem." Warum entstehen solche Regularien? Es darf nicht dazu führen, dass zum Beispiel Wiedenbrück keinen Euro in Steine investiert und sagt, „wir lassen nur 500 Leute rein. Die Millionen, die dort gespart werden, stecken wir in den Sport und steigen schnell auf." Da muss natürlich das Verhältnis passen. Wenn sich aus einem eingesparten Budget ein Wettbewerbsvorteil erschaffen wird, darf das nicht sein. Aber das ist bei Kiel nicht der Fall gewesen. Wir kennen ja ungefähr die Etatzahlen. Sie haben andersherum sogar vorbildlich in die Jugendförderung investiert. Sie haben in ein Leistungszentrum investiert. Sie haben also nicht die Infrastruktur komplett vernachlässigt, sondern auch diese Investitionen nachgewiesen. Das muss man einmal komplett beleuchten. Deswegen halte ich die Entscheidung für falsch. Sie ist statutenkonform, aber ich hoffe, dass der Lizensierungsausschuss wie bei RB, allerdings aus anderen Gründen, eine Ausnahmegenehmigung erteilen wird. Ich empfände das schon als besondere Härte, diesem Verein das Heimrecht zu verwehren, der sportlich Grandioses geschafft hat und dann einen Nachteil in Kauf nehmen soll und bestraft wird. Man würde jetzt infrastrukturelle Dinge höher gewichten als sportliche und das kann nicht sein.

schwatzgelb.de: Wenn Kiel aufsteigen sollte, wären sie ja erstmal Abstiegskandidat Nr. 1, ohne das abwertend zu meinen. Wäre es dann nicht besser, erstmal den Verein ein Jahr Bundesliga spielen zu lassen und dann zum Ausbau zu bewegen?

Rettig: Diesen Fall gab es schon mal. Da hieß Holstein Kiel Darmstadt 98. Und da wurde genau so argumentiert. Danach sind die Statuten übrigens verschärft worden. Ein Antrieb war unter anderem das Vorgehen von Darmstadt 98, die genau diesen Weg auch gegangen sind, nur mit dem Unterschied, dass Darmstadt 98 schon mal in der Bundesliga war. Aber die sind auch sportlich schneller galoppiert, als das Böllenfalltor mithalten konnte. Sie haben dann immer erklärt, wenn wir die Klasse halten, dann kommen die Baupläne. Aber wir steigen ja sowieso wieder ab und dann ist das alles hinfällig. Pustekuchen … die sind in der Klasse geblieben …

Andreas Rettig im Gespräch

schwatzgelb.de: Frechheit!

Rettig: (lacht) Ja, genau, Frechheit. Da muss man dann auch sagen, sind wir wieder beim Thema Wettbewerb: Andere mussten Geld in die Infrastruktur stecken, Darmstadt hat das nicht. Aber hier ist der Fall anders, weil Kiel Baugenehmigungen hat, die Bagger stehen quasi bereit und die Kapitalbindung ist auch schon erfolgt. Diese Argumentation verfängt also gar nicht. Von daher sehe ich das auch als unzumutbare Härte, wenn keine Ausnahmegenehmigung erteilt wird. Das würde ich nicht verstehen. Am Ende sind wir ein Sportverband und sollten keinen Architekturwettbewerb starten.

schwatzgelb.de: Also hättest du an Stelle der DFL die Genehmigung erteilt?

Rettig: Nein, das muss ich auch ganz klar sagen. Ich glaube, dass die DFL-Geschäftsführung an der Stelle nicht anders entscheiden konnte, aber ich habe großes Vertrauen, dass der Lizensierungsausschuss möglicherweise diese besonderen Härtefälle anders gewichten wird, als die DFL das getan hat. Deswegen bin ich optimistisch, dass das „Gnadengesuch" erhört wird. Man hat ja auch gute Argumente. Wir sind mit Kiel im Gespräch und versuchen zu helfen und zu unterstützen, weil wir das nicht verstehen würden, wenn jemand sportlich, wenn auch zu unserem Leidwesen sehr erfolgreich, bestraft würde.

schwatzgelb.de: Wie kommen wir zu diesen Statuten? Das sind Prozesse, die man als Fan nicht nachvollziehen kann. Ich brauche nicht unbedingt ein Dach über dem Kopf. Das hat 50 Jahre auch ohne geklappt. In Bergamo klappt es auch in der Europa League. Und trotzdem werden solche Entscheidungen getroffen, die teilweise großen Einfluss auf die Fankurven und Fans haben. Ganz extrem wird es im Amateurbereich, wenn keiner aufsteigen will, weil die Anforderungen zu hoch sind. Das hat schon eine gewisse Perversität. Und auch das Argument, dass Wiedenbrück so viel spart, dass sie in die zweite Bundesliga aufsteigen können, ist eher gewagt. Aber diese Entscheidungen für die Statuten sind für Fans manchmal nicht nachvollziehbar.

Rettig: Da muss ich widersprechen. Wer trifft denn die Entscheidung? Die Entscheidung treffen die 36 Klubs. Dann empfehle ich euch nur: Dann müsst ihr euch mit eurem Verein auseinandersetzen und dann müsste jeder einzelne Verein, wenn Satzungsänderungsanträge da sind, diese mit den Fans besprechen und sagen, das steht zur Abstimmung an und welche anderen Argumente habt ihr? Dann kann der Vereinsvertreter das entsprechend einbringen und in der Versammlung sagen, dass gegen Antrag xy gestimmt wird. Nicht alles auf die DFL schieben. Die DFL setzt nur um. Genau wie jetzt, wenn die Mehrheit dafür ist, dass 50+1 so bestehen bleibt, dann ist das ein demokratisches Konzept. Und wenn von den 36 Vereinen, 19 sagen, wir brauchen kein Dach über dem Kopf, dann wird das nicht umgesetzt. Die DFL setzt diese Satzungsdinge nur um, die von den Vereinen beschlossen werden. Der Adressat der Kritik sollte dann schon der Richtige sein.

schwatzgelb.de: Trotzdem fehlt dann die Transparenz. Der Verein wird dann sagen „Wir haben in eurem Sinne abgestimmt" oder „Wir hätten ja, aber München und Dortmund wollten das anders". Wir sind als Fans vernetzt und von allen Vereinen bekommt man immer zu hören, dass man im Sinne der Fans abgestimmt habe.

Andreas Rettig im Gespräch

Rettig: Das ist ja relativ einfach zu klären. Bei der Entscheidung 50+1 gab es ein Votum, da waren vier Gegenstimmen, die Vereine sind alle mittlerweile bekannt. Acht oder neun Enthaltungen, 18 Ja-Stimmen. Kaiserslautern und Regensburg waren nicht da. Ich habe im Nachgang zu der Sitzung mit beiden Vereinsentscheidern telefoniert und habe mir das Votum, wie sie abgestimmt hätten, angehört, weil es für uns auch noch mal wichtig ist, weil wir das Thema transparent machen wollten nach außen. Da ist wichtig, ob 18 oder 20 Stimmen. Beide Vereinsvertreter haben gesagt, sie bekennen sich ganz klar zu diesem Antrag und das haben sie mir auch schriftlich bestätigt. Man kann also sagen, dass es am Ende 20 Befürworter gab. Das ist in der Außenwelt nochmal ein wichtiger Punkt. Ganz so einfach können sich die Vereinsvertreter es nicht machen, weil die Entscheidungen dann doch am Ende immer transparent sind und nach außen kommuniziert werden. Wer mit Nein gestimmt hat, weiß doch inzwischen jeder. Dann etwas anderes zu behaupten, ist relativ schnell zu überprüfen. Wenn ich jetzt sagen würde, ich habe als Vertreter von St. Pauli mit „Ja" gestimmt und es würde öffentlich werden, dass wir anders abgestimmt haben, dann hätten wir echt Kummer im Innenverhältnis. Da müssen die Mitglieder auch drauf vertrauen. Wenn ich anders stimme, dann stehe ich dazu und begründe das. Man muss ja nicht immer einer Meinung sein.

schwatzgelb.de: Kommen wir mal zu 50+1: Angenommen, ein Investor würde beim FC St. Pauli einsteigen. Wenn man dann dem FC Bayern Konkurrenz bieten wollen würde, wie viel Geld müsste man investieren, damit man die Bayern realistisch angreifen könnte.

Rettig: Du hebst ja jetzt ein bisschen darauf ab, dass die nationale Wettbewerbsfähigkeit durch den Wegfall von 50+1 erhöht würde.

schwatzgelb.de: Auch, um mal zu sehen, welche Dimension das hätte.

Rettig: Kann ich gar nicht beantworten. 200 Millionen werden da sicher nicht reichen. Für uns käme das ohnehin nicht in Frage. Da gibt es auch keine Schmerzgrenze. Natürlich, wenn ihr mir alle einen Geldsack geben würdet, würde ich das Geld mit nach Hamburg nehmen. Und wenn ihr dann noch Mitglieder bei uns seid, könnt ihr sogar mit einer Stimme abstimmen. Egal, wie groß der Geldsack ist. Für uns kommt das also nicht in Frage. Wenn ich mal für unseren Verein sprechen darf: Wir haben einen Wettbewerbsnachteil, weil wir den Stadionnamen nicht verkaufen. Wir beschränken uns, indem wir nicht ausgliedern. Da lassen wir ordentlich Kohle liegen. Wir haben strenge Vermarktungsrichtlinien und setzen auch auf Grund der Satzung bestimmte Dinge nicht um. Ein Unternehmen wollte uns zum Beispiel einen sechsstelligen Betrag zur Verfügung stellen, wo wir lange intern diskutiert haben, auch kontrovers logischerweise. Aber wir haben den Vertrag nicht unterschreiben können, weil es am Ende nicht den Vermarktungsrichtlinien entsprach. Und trotzdem müssen wir hier und da mal Kompromisse eingehen, wo wir abwägen müssen. Das muss dann jeder für sich entscheiden. Wir predigen ja auch nicht die „reine" Lehre. Darüber hinaus haben wir weitere Themen, was die Wettbewerbsfähigkeit angeht. Wir haben ein eigenes Stadion gebaut und finanziert, während andere in städtischen Anlagen sind und weniger Miete zahlen. Wir haben also in St. Pauli schon eine schwierige Wettbewerbssituation, weil wir uns selbst beschränken. Das ist so, bringt uns aber auch Vermarktungserfolge, weil wir nicht dem Mainstream entsprechen. Das muss man fairerweise sagen. Die Ausgangsfrage kann man aber so nicht beantworten und das ist dann der Bogen zu 50+1: In dem Moment, wo wir den Geldsack annehmen, von dem wir denken, dass er die Wettbewerbsfähigkeit erhöht, würde Bayern München sagen: „Wir holen einen größeren Geldsack!" Deswegen halte ich das für eine aberwitzige Diskussion, zu sagen, der Wegfall von 50+1 würde die internationale Wettbewerbsfähigkeit steigern. Glaubt denn wirklich jemand, dass Herr Neymar für 250 Millionen zu Bayern gehen würde? Dann würde doch der Katari kommen und sagen „dann zahle ich halt 300 Millionen". Du kannst ein Rennen gegen Oligarchen, Staatsfonds oder chinesische Konglomerate nicht gewinnen, wenn du wirtschaftlich denken musst. Deswegen haben wir seinerzeit auch ein klares Plädoyer gehalten und es allen zugerufen, die gesagt haben „das hält rechtlich nicht". Die DFL hat jahrelang mit dem Kartellamt im Rahmen der TV-Ausschreibung gesprochen und eine Ausnahmegenehmigung für den Fußball erwirkt, weil es kein normaler Wirtschaftszweig ist. Diese ganze Thematik kann ich natürlich nicht abschließend bewerten. Deswegen bin ich auch skeptisch, wenn einer klagt, dass alles in sich zusammenfällt.

Man muss abwägen: Wollen wir eine vermeintliche Erhöhung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, die nicht zu erreichen ist, wie ich eben erläutert habe. Oder wollen wir die gesellschaftspolitisch Aussage des Fußballs als Volkssport aufs Spiel setzen? Da sage ich, dass wir gar nicht abschätzen können, wenn wir die Schleusen öffnen. Erstens geht dann die Jagd nach dem größten Investor los. Dann haben wir eine Forbes-Tabelle und keine sportliche Tabelle. Und die ungehemmten Kapitalflüsse können wir gar nicht kontrollieren. Beispiel: Der chinesische Konzern HNA hat damals 9,9% im ersten Schritt an der Deutschen Bank, was ja keine kleine Klitsche ist, erworben. Die haben deswegen 9,9% erworben, weil unter 10% kein Inhaberkontrollverfahren eingeleitet werden muss. Es gab verschiedenste Medien, die versucht haben, diesen Konzern zu durchleuchten, wer letztlich dahinter steckt, wo das Geld herkommt. Es ist nicht gelungen. Das heißt, wenn es auf dieser Ebene nicht möglich ist, zweifelsfrei zu ermitteln, von wo wer welche Gelder in den Kreislauf einspeist, dann ist es eine naive Vorstellung, dass wir das im Fußball können. Zu glauben, dass morgen kein Strohmann kommt und irgendwo investiert, ist doch naiv. Gucken wir uns doch nur die Beispiele in Italien an: Da wird die Integrität des Wettbewerbs auf den Kopf gestellt, weil der Manipulation Tür und Tor geöffnet sind. Wenn man nicht mehr weiß, wer de jure, also nicht für die Öffentlichkeit, sondern faktisch, Eigentümer des Klubs ist, dann kann ich Interessenskonflikte gar nicht verhindern. Man weiß ja nie, wer wirklich dahinter steckt. Ob das eine Agentur, ein Fonds oder ein Oligarch ist, der einfach nur die Püppchen hin und her schiebt.

Man bekommt die Tür auch nicht mehr zu. Das ist eine unwiderrufliche Entscheidung. Bei Ligagründung 1963 hatten wir 16 eingetragene Vereine. Das waren die Eigentümer des Fußballs. Von diesen 16, die damals tatsächlich Vereine waren, hat sich das heute verschoben. Die Eigentümerstruktur hat sich verschoben, weil viele dieser Vereinsgesellschafter durch Anteilsverkauf weggedrängt worden sind. Deswegen verschiebt sich zu Teilen die Strategie und dadurch kommt noch ein anderer Einfluss in den gesamten Profifußball hinein: Es geht nicht mehr zu 100% um die Liebe am Spiel und die Vereinsverbundenheit. Da könnte man eine ganze Litanei aufführen, was wichtig und liebenswert am Fußball ist und sich mehr und mehr ins Wirtschaftliche verschiebt. Die Tür bekommst du nicht mehr zu.

schwatzgelb.de: Du bist starker Verfechter der 50+1 Regel, hast aber auch mal bei Bayer Leverkusen gearbeitet, die die 50+1 Regel umgehen. Hat sich da deine Meinung geändert oder würdest du sagen, dass man deinen ehemaligen Arbeitgeber sanktionieren müsste?

Andreas Rettig im Gespräch
Rettig: Ne, also ich hatte damals auf den Ort meiner Geburt keinen Einfluss (lacht). Ich habe dann zunächst im Konzern gearbeitet und mein früherer Mentor und Chef Reiner Calmund hat mir dann die Möglichkeit gegeben in den Profifußball zu kommen. Ich war auch aus Überzeugung in dem Verein und habe vieles gelernt. Das hat aber nichts damit zu tun, dass ich in der Frage eine andere Meinung habe. Ich habe es eben versucht zu erklären. Die „pro 50+1"-Haltung kam nicht erst mit dem Wechsel zu St. Pauli. Für jemanden, der sich beim Arbeitgeber die ersten beruflichen Sporen verdient, ist der Einfluss jedoch sehr beschränkt. Meine Meinung zu 50+1 hat natürlich zu dieser Zeit keine Sau interessiert. Da solltet ihr mich nicht überschätzen. Wenn ich in der Situation meine Stimme erhoben hätte, wäre das sicherlich verhallt.


schwatzgelb.de: Ich stelle mir das schwierig vor, weil du letztendlich bei einem Verein gearbeitet hast, wo du nicht 100% hinter dem Konzept stehst.

Rettig: Ich habe mich bei Leverkusen mit der Arbeit und mit dem, was wir gemacht haben, identifiziert. Ich werde nicht sagen, „das war ein Scheißverein." Ich habe da viel gelernt und war für die ersten sechs bis acht Jahre für die Nachwuchsarbeit verantwortlich. Da hatte ich gute Kollegen, zum Beispiel Michael Reschke, der jetzt beim VfB Stuttgart ist. Markus Anfang, der neue FC Köln-Trainer war Jugendspieler und Rudi Völler hatte sein Büro neben meinem und natürlich Reiner Calmund nicht zu vergessen. Das war eine tolle Zeit. Das Bewusstsein, so will ich das mal formulieren, ist erst später entstanden, weil Leverkusen und Wolfsburg immer zusammengehört haben. Ich glaube, wenn zum damaligen Zeitpunkt eine RB-Geschichte thematisiert worden wäre, wäre mir das sicher bewusster geworden. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich nicht das Gefühl, dass dort etwas Unrechtmäßiges passiert. Das ist 20 Jahre oder mehr her. Da muss man vorsichtig sein, aber mit dem Wissen von heute hätte man vielleicht damals schon die eine oder andere Frage stellen können. Keine Ahnung, ob das jemanden interessiert hätte. Ich glaube, dass Leverkusen und Wolfsburg nicht so die Problemfälle waren zur damaligen Zeit. Die wurden als Werksverein zwar quasi abgekapselt, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass man die gleiche Diskussion führte wie bei RB. Es wurde kritisch gesehen, das glaube ich schon, aber ähnliche Proteste gab es nicht, nicht in dieser Wucht.

Im dritten Teil spricht Andreas Rettig über die Springer-Presse, Abstimmungen in der DFL, Martin Kind und eine erneute Abstimmung über 50+1.

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