Warmlaufen

Tage wie diese

20.05.2016, 10:07 Uhr von:  Nadja
Der BVB im Pokalfinale - mittlerweile Normalität
Die letzten Jahre haben ihren Tribut gefordert. Pokalfinale sind mittlerweile Normalität geworden. Das Gefühl vor einem Finale ist nicht mehr dasselbe. Die Marketingmaschinerie hat das ihre dazu beigetragen, die Regelmäßigkeit, mit der wir Spiele gewinnen ebenfalls, die zahlreichen zumeist verlorenen Finale den Rest. Wir sind ein bisschen geworden wie die Bayern, nur ohne den Erfolg. Das war wohl nicht zu vermeiden, Zeiten ändern sich und Siege verlieren irgendwann ihre Emotionalität, wenn sie in großer Zahl auftreten. So wie Niederlagen ihren Schrecken verlieren, wenn man viele davon hintereinander durchmacht. Unser Körper ist nicht dafür geschaffen, ein Gefühl, sei es nun Panik, Verliebtheit, Trauer oder Freude, über einen längeren Zeitraum auf einem konstant hohen Level zu halten. Man kann diese Gefühle jedoch nähren, sie wiederbeleben, mit Gerüchen, Geräuschen, Erinnerungen. Oder Liedern.
Vor nicht allzu langer Zeit lief im Radio „An Tagen wie diesen“ von den Toten Hosen. Und auf einmal kam bei mir das Gefühl wieder auf. Das Gefühl der Vorfreude auf das Pokalfinale. Das Gefühl, wie bedeutend dieser Pokalsieg sein kann. Die Erinnerung an 2012:

Wir gehörten 2012 zu den Glücklichen mit Karte für das Olympiastadion. Aufgeweckt, gut gelaunt, frisch geduscht und vor allem ganz in schwarz-gelb machten wir uns gegen zehn auf den Weg in die Stadt. Es war wunderbar, die Hauptstadt wiederum in schwarz-gelb getaucht zu sehen, Borussia an jeder Ecke, Gedanken an 2008 wurden geweckt. Wir feierten den ganzen Tag – am Brandenburger Tor, am Potsdamer Platz und zuletzt stundenlang an der Gedächtniskirche, ehe wir gegen Abend zum Stadion aufbrachen. Das Kribbeln in der Bauchgegend wurde immer stärker.
Der Pokal soll auch am Samstag wieder in schwarzgelben Händen liegen

Dann tauchte vor unseren Augen das imposante Olympiastadion auf, nach dem Westfalenstadion sicherlich das schönste deutsche Stadion und auch beim dritten Mal noch immer eine Erscheinung. Wir wollten nur noch rein! Ich gehöre nicht gerade zu den größten Fuβballoptimisten und hatte es kaum für möglich gehalten, die Bayern drei Mal in einer Saison zu schlagen. Wenn, dann würde es knapp werden, eine Zitterpartie, ein Herzschlagfinale. Hauptsache, wir können gut dagegen halten, konzentrieren uns und machen den Bayern das Leben so schwer wie möglich, damit wäre ich zufrieden gewesen, damit war ich auch 2008 zufrieden gewesen. Als der Ball in der 3. Minute im Tor lag und ich von irgendwem einen Meter in die Luft gehoben wurde, fasste ich nicht, was mir geschah. Die Zeit danach gab uns etwas Luft, um darüber nachzudenken. Doch je länger ich das tat, umso unrealistischer wurde der Gedanke, dass wir in Führung lagen. Der Ausgleich der Bayern war folgerichtig und dessen Richtigkeit dürfte nicht angezweifelt werden. Doch nach einer Weile zeigte unsere Borussia wieder ihr gewohntes Gesicht und als der Schiedsrichter auch für uns Elfmeter pfiff, bekam ich eine Faust aufs Auge! Zu früh gejubelt, dachte ich für mich, noch ist er nicht drin. Das könnte auch nach hinten losgehen… Die Elfmeterzweifel waren über Jahre genährt worden und konnten angesichts mangelnder Möglichkeiten auch in jener Saison nicht ausgeräumt werden. Meine Freundin drehte sich ab, wir anderen drei schauten mit gekreuzten Fingern, die Hände halbwegs vor den Augen mit gebanntem Blick und bis in die letzte Sehne angespannt auf das entfernte Tor. Das Netz zitterte, wir flogen wieder übereinander hin! Und dann die Nachspielzeit, viel zu lange, ich wollte mit der Führung in die Pause, wollte durchfeiern. Doch die Feiern wurden jäh unterbrochen vom nächsten Torjubel!

Völlige Extase in 2012

Von Sitzplatzblock konnte schon lange keine Rede mehr sein, zu anstrengend war das dauernde hinsetzen und aufstehen. Ich setzte mich daher in der Halbzeitpause zum ersten Mal hin. Durchatmen, versuchen zu begreifen, nachdenken, was, wie und ob das eigentlich noch schiefgehen könnte. Einen kurzen Moment fühlte ich eine seltsame innere Ruhe, doch dann kamen auch schon wieder alle Spieler zurück auf das Feld. Die gefühlt kürzeste Halbzeitpause aller Zeiten… Die zweite Halbzeit ist in meiner Erinnerung trotz absolutem Alkoholverzicht verschwommen. Ich habe gelesen, dass wir die Bayern teilweise dominiert haben und ich zweifle keinen Moment an diesen Aussagen. Erinnern kann ich mich nur an einen weiteren Torjubel und an meinen Nachbarn, der mir ins Ohr schrie „Das ist es! Das ist es! Das ist es!“, dann an meine eigenen Schreie vor und nach dem 4:2 „Drauf! Drauf! Konzentriert bleiben! Kommt Jungs! Genau! Nach vorn! Weiter!“ und wie ich dem gleichen Nachbarn nach dem 5:2 „Das wars! Das wars! Das wars!“ ins Ohr geschrien habe. Alles andere war schwarz-gelb und gold, Jubel und Freude, unbändige Glücksgefühle und blaue Flecken von den Stühlen. Letztere fühlten wir allerdings erst am nächsten Morgen. Am Abend standen wir nur da und schauten in Unglauben auf den goldenen Lamettaregen, der über die Mannschaft kam, als diese das Marathontor neben uns verlassen und sich „endlich“ zur Pokalübergabe begeben hatte. Als die Spieler wieder zurück bei den Fans waren und ich sie da unten tanzen sah, den Pokal in der Hand, da musste ich an das Pokalfinale 2008 denken. Wie wir in der Kurve standen, die Schals über den Köpfen, mit Tränen in den Augen. Ich bekam ein flaues Gefühl in der Magengegend. Etwas später tauchte auchirgendwoher die Schale auf und Kagawa rannte mit ihr vor uns entlang.

2012 reckte Robert Lewandowski den Pott in die Höhe

In diesem Moment schoss mir die Szene vom Spiel in Bielefeld in den Kopf, als wir nach Abpfiff im Auswärtsblock standen, bedrüppelt, 16., ausgelacht und besiegt von Arminia Bielefeld im strömenden Regen und ein Mann zu mir meinte „Weine nicht, die Trümmertruppe ist es nicht wert.“ Und ausgerechnet dann kam über die Lautsprecher „An Tagen wie diesen“ und der ganze schwarz-gelbe Block war ein großer Chor, der den Refrain mitsang. Mir rannen die Tränen die Wangen runter wie Wasserfälle, zum ersten Mal seit zwei Jahren begriff ich, was ich gerade miterlebte. Pokal und Schale waren gleich da unten, in den Händen der vielleicht sympathischsten Borussen aller Zeiten, es liefen mir Schauer über den Rücken, nebst der Dauergänsehaut die ich schon den ganzen Abend hatte. Wir würden noch Generationen von diesem Spiel, von diesen letzten zwei Saisons erzählen!!! Gefühlte Stunden später, als die Mannschaft verschwunden war und die Blöcke auch auf unserer Stadionseite nur noch spärlich gefüllt waren, gingen wir bedächtig nach draußen, um auch die letzten Atemzüge an diesem denkwürdigen Ort mitzunehmen. Einmal draußen wurde dann aber auch gleich wieder gefeiert. Noch immer singend und tanzend auf dem Rasen vor dem Stadion kam plötzlich jemand auf mich zu und wollte eine meiner Bananen von 2008, die ich wieder ausgegraben hatte. Er wollte sie tauschen gegen Goldlametta, das er unter seinem Pulli trug.

Auch am Sonntag soll es wieder einen Autocorso geben

Ich stimmte zu, tauschte in der dunklen und mittlerweile auch wieder kalten Berliner Nacht vor dem Stadion eine vier Jahre alte aufblasbare Plastikbanane gegen stinkendes Goldlametta, das ein Wildfremder unter seinem Pulli versteckt hatte, stopfte es danach schnell unter meinen eigenen Pulli, um nicht umgerannt zu werden von allen, die ein Stückchen „Pokalsieg“ abhaben wollten. Isoliert betrachtet eine äußerst absurde und doch so genial treffende Situation.

Wir hingen am nächsten Tag zwei Lamettastränge aus dem Autofenster im längsten Automeisterpokalkorso, den diese Republik jemals gesehen hat – von Berlin nach Dortmund. Hupkonzerte, Schals, Lieder aus den offenen Fenstern und in jedem Gesicht der gleiche Ausdruck: totale Erschöpfung, ein leichter bis mittelschwerer Kater und ein seliges Lächeln.

Lasst es uns wieder aufleben, das Pokalfinalgefühl! Alle zusammen nach Berlin, die Bayern fertig machen – auf und neben dem Feld! So wie damals.

So könnten sie spielen

Bayern München: Neuer – Lahm, Benatia, Boateng, Alaba – Alonso – Costa, Müller, Vidal, Ribery – Lewandowski

Borussia Dortmund: Bürki – Piszczek, Sokratis (Bender), Hummels, Schmelzer – Weigl – Castro, Kagawa – Mkhitaryan, Aubameyang, Reus

Schiedsrichter: Fritz (Korb)

Zuschauer: 76.233 (ausverkauft)

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