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Warum der BVB nicht nur nach Dubai fahren darf, sondern muss

11.01.2016, 10:08 Uhr von:  Sascha
Warum der BVB nicht nur nach Dubai fahren darf, sondern muss
arabische Halbinsel
© Quelle: wikipedia.de

So ganz langsam regt sich etwas. Eine Diskussion, ob der BVB ein Wintertrainingslager in Dubai abhalten darf oder ob die Münchener Bayern zur Rückrundenvorbereitung nach Katar fliegen sollen. Es sind eben, nach unseren Maßstäben, keine x-beliebigen Länder wie Spanien, Portugal oder die USA, die sich andere Bundesligisten als Reiseziele auserkoren haben. Die Situation für ausländische Arbeitskräfte, für Frauen und Homosexuelle und Regierungskritiker in diesen Ländern dürfte mittlerweile hinlänglich bekannt sein. Nach unseren westlichen Maßstäben ist sie schlicht und ergreifend nicht akzeptabel. Menschen dürfen nicht ausgebeutet, diskriminiert und verfolgt werden und das ohne Ausnahme. Punkt. Ein weiterer Kritikpunkt ist die fast vollständige Weigerung, Kriegsflüchtlinge aufzunehmen. Auf der einen Seite schwelgt man im Reichtum, auf der anderen Seite zwingt man Syrer und Iraker auf den langen und gefährlichen Weg Richtung Europa. Auch das ist nicht gerade ein Ruhmesblatt in Sachen Menschlichkeit. Und demzufolge dürfen europäische Vereine die dortigen Herrschafts- und Gesellschaftssysteme nicht mit legitimieren und sollten nicht mithelfen, ihnen den Anstrich von Normalität zu geben. Eigentlich ganz einfach.

Aber vielleicht ist es auch zu einfach, stur westliche Wertvorstellungen als Maßstab zu setzen und kulturelle, historische, politische und religiöse Hintergründe einfach auszublenden. Dabei darf das keinesfalls als Entschuldigung für die Missachtung von Menschenrechten gelten, aber um Menschen zu Änderungen zu bewegen, muss man sie zu allererst verstehen. Dass „die Menschen“ im Nahen Osten und im arabischen Raum eine Mentalität haben, die sich deutlich von unserer mitteleuropäischen unterscheidet, wird jeder wissen, der bereits einmal ein arabisches Land bereist hat. „Inschallah“ – So Gott will. Nicht fatalistisch, sondern mit einem tiefen Gottvertrauen und einer ebenso tiefen Verwurzelung in die Religion. Eine Grundeinstellung. In manchen Staaten in einen religiösen Eifer und Fanatismus gesteigert, der uns völlig fremd ist. Aber wichtig, um zu verstehen, warum sich ein ganzer Staat einer Religion unterordnen kann und warum seine Einwohner ein religiöses Regel- und Gesetzeswerk wie die Scharia als Lebensgrundlage akzeptieren können. Im christlichen Bereich gibt es mit den zehn Geboten ein ähnliches Regelwerk, aber herrscht beim Tötungsverbot noch ein allgemeiner Konsens, nehmen es viele schon beim Ehebruch nicht mehr so genau. Und welchen Stellenwert die Heiligung des Feiertages hat, kann man in der Adventszeit an jedem verkaufsoffenen Sonntag in den Innenstädten sehen. Das ist jedoch etwas fundamental anderes als die Scharia, die sich bis hinein in die Abwicklungen von Bankgeschäften auswirkt.

Ebenso sind in islamisch geführten Staaten auch die Menschenrechte von der Scharia stark beeinflusst. Gilt für uns die Menschenrechts-Charta der Vereinten Nationen von 1948, die zum Beispiel von Saudi-Arabien nicht unterschrieben wurde, gibt es mit der Kairoer Erklärung der Menschenrechte seit dem Jahr 1990 ein islamisches Gegenstück, das die UN-Charta in Teilen übernimmt, jedoch immer unter den Vorsatz stellt, dass diese Rechte nur Gültigkeit besitzen, so lange sie der Scharia nicht widersprechen. Darüber hinaus existiert noch eine spätere arabische Charta der Menschenrechte, in der die Scharia nicht direkt erwähnt wird, sich aber über den Umweg über die Kairoer Erklärung ebenso darauf bezieht. In beiden Fällen gehören auch die Vereinigten Arabischen Emirate, somit auch das Emirat Dubai, zu den Ländern, die diese Erklärungen ratifiziert haben. Es ist also mitnichten so, dass in den Ländern des Nahen Ostens die Menschenrechte keine Rolle spielen. Man hat sehr wohl eine Vorstellung davon. Allerdings bringt man dort zusammen, was für uns unvereinbar ist. Die Todesstrafe für Homosexualität, die so explizit nicht im Koran gefordert wird, die Steinigung oder Amputation von Gliedmaßen für Raubvergehen – all das steht für uns im völligen Gegensatz zu Menschenrechten. In diesen Ländern stehen sie darüber. Wenn man sich das bewusst macht, bekommt man eine ungefähre Ahnung davon, warum ein Land wie Dubai, in dem außerehelicher Geschlechtsverkehr mit Gefängnis bestraft wird, noch als gemäßigt gilt. In Saudi-Arabien dürfte es Menschen geben, denen das Emirat freiheitlich und geradezu liberal erscheinen mag.

Vieles erscheint uns fremd, falsch und widersprüchlich an dieser Region der Welt zu sein, eins ist sie aber auf jeden Fall: sehr, sehr kompliziert. Wir reden oft über den „Nahen Osten“ als wäre es eine Einheit. Eine Darstellung, wie sie falscher nicht sein könnte. Fundamentalistisch-theokratische und eher säkulare Staatsformen, sunnitische und schiitische Ausprägungen – ganz zu schweigen von weiteren Aufspaltungen wie zum Beispiel Wahabismus und Sufismus – des Islams, persische, arabische und kurdische Volksgruppen, orientalische, afrikanische und westliche Einflüsse, all das prallt hier aufeinander. Während ein Emirat wie Katar in Paris einen Zlatan Ibrahimovic finanziert, versinkt am anderen Ende der arabischen Halbinsel der Jemen in Chaos und bitterer Armut.

Wo in anderen Teilen der Welt Regionalmächte stabilisieren und in Konflikten moderieren, stehen sich hier Saudi-Arabien und der Iran fast unversöhnlich gegenüber. In Syrien unterstützt der mehrheitlich schiitische Iran Noch-Machthaber Assad, Saudi-Arabien dessen Gegner. Und vielleicht auch den IS, vielleicht aber auch nicht. Flüchtlinge nimmt man aber, wie auch die anderen Emirate, fast gar keine auf. Weil „Fremde“, noch dazu aus einem für arabische Verhältnisse eher säkularen Staat wie Syrien, vielleicht eine Gefahr für die jahrhundertealten Feudalsysteme sein könnten. Und auch eine finanzielle Belastung. Die Fassade märchenhaften Reichtums von 1001 Nacht beginnt zu bröckeln, seitdem Saudi-Arabien einen wahren Preiskrieg im Rohölbereich führt. War in der Vergangenheit die OPEC, die Vereinigung erdölexportierender Länder, um Preisstabilität auf möglichst hohem Niveau bemüht, so herrscht aktuell ein knallharter Verdrängungswettbewerb. 90 Milliarden US-Dollar betrug das Jahresdefizit 2015 allein von Saudi-Arabien. Nun werden sich die Ölscheichs nicht gleich zum nächsten KiK-Outlet begeben müssen, aber es stellt sich die Frage, wie lange man noch Großprojekte wie den Bau einer U-Bahn in Riad finanzieren kann. Und nicht allein das die Erträge aus dem Ölgeschäft wie Schnee in der Wüste wegschmelzen, es gibt auch nicht allzu viele wirtschaftliche Alternativen. In den Vereinigten Arabischen Emiraten hat man zwar schon seit längerem versucht, die Abhängigkeit vom Öl zu reduzieren und vor allem in Dubai wurde viel Geld in den Tourismus investiert. Aber wie anfällig auch dieses Land ist, zeigte die große Finanzkrise von 2008, die zahlreiche Großprojekte jäh beendete, weil die Finanzmittel fehlten. Wo in Deutschland bei der Flüchtlingspolitik auch von einer Chance für den Arbeitsmarkt gesprochen wird, bleibt in diesen Ländern für Flüchtlinge maximal der äußerst prekäre Bausektor. Wenn man nicht gerade Franz Beckenbauer heißt, dann bekommt man eine sehr klare Vorstellung davon, was das für Aussichten auf Integration hätte.

Und noch etwas darf man auf keinen Fall vergessen: Es gibt kein arabisches Pendant zur europäischen Aufklärung. Und wer im arabischen Frühling Parallelen zur französischen Revolution gesehen hat, wird mittlerweile bitter enttäuscht sein. Was wir in Europa unter Menschenrechten, unter Menschenwürde und Gleichheit verstehen, ist das Ergebnis einer historischen Entwicklung, die es dort nicht gegeben hat. Auch wenn die Menschen in Dubai über die Stammesstrukturen Einfluss nehmen und im Extremfall den Scheich sogar entmachten können, so ist das etwas ganz anderes als freie Wahlen. Und in Saudi-Arabien regiert die Dynastie der Familie Saud schon seit bald hundert Jahren. Wenn in der internationalen Presse in den letzten Monaten wiederholt von einer Krise des Königshaus die Rede war, beschränkte sich die Diskussion über die Alternativen zum aktuellen Herrscher Salman ibn Abd al-Aziz auf diesen oder jenen der zahllosen Prinzen der Familie. Von einer Selbstbestimmung und demokratischen Strukturen kann also keinesfalls die Rede sein. Blickten wir heute zurück ins Europa des 17. Jahrhunderts, dann sähen wir auch bei uns selbst eine Gesellschaft, die mit unserem heutigen Werteverständnis nicht in Einklang zu bringen ist.

Erwartet bei all dem wirklich jemand, dass die bloße Forderung nach der Einhaltung von Menschenrechten nach westlichem Vorbild irgendetwas bewirkt und sich die dortigen Staaten irgendwann einfach nach unseren Vorstellungen ausrichten?

Was all das mit Trainingslagern eines deutschen Fußballvereins zu tun hat? Es bewirkt vielleicht eine andere Sichtweise und sollte auch die Rolle unserer Vereine neu definieren. Was machen wir denn, wenn wir fordern, dass sie dort nicht hinfahren sollen? Wir isolieren. Wir sagen: „Sagt Bescheid, wenn ihr unseren moralischen Vorstellungen entsprecht und dann kommen wir wieder“. Das funktioniert aber nicht und wir sollten das am besten wissen. Es gäbe kein wiedervereinigtes Deutschland, wenn Willy Brandt keine Annäherung an die DDR eingeläutet hätte. Eine Vision eines vereinten Europas wäre ohne eine Aussöhnung Deutschlands u.a. mit Frankreich und Polen von vorneherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Und wie würde die Welt heute aussehen, wenn sich Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre Ost und West nicht aufeinander zu bewegt hätten? Selbst dafür, dass der Sport für engere Verbindungen sorgen kann, gibt es historische Beispiele. Man denke da nur an die sogenannte Ping-Pong-Diplomatie zwischen den USA und China in den 70er Jahren. Es mag eine abgedroschene Binsenweisheit sein, aber Kontakt und steter Gedankenaustausch ist der Schlüssel und Antrieb von Veränderungen. Ist es ein Zufall, dass Dubai noch als vergleichsweise moderater Staat auf der arabischen Halbinsel gilt oder liegt es auch mit daran, dass man im regen Austausch mit dem Westen steht? Wogegen man eher selten hört, dass Leute Urlaub in Saudi-Arabien oder dem Iran machen.

Und hier kann der Fußball ein wichtiges Vehikel für Gedanken und Entwicklungen sein, weil er eine integrative Funktion hat. Allein in Borussias Stammelf stehen Spieler aus sechs verschiedenen Nationen. Aus Europa, aus Asien und Afrika. Bei den Bayern spielt mit Franck Ribéry ein Moslem zusammen mit Christen. Auf den Tribünen der Vereine stehen Männer, Frauen und Kinder gemeinsam und feuern ihren Verein an. Hier können Werte aufgezeigt und ohne überhebliche Zeigefinger transportiert werden. Das ist aber kein Persilschein für die Vereine und verlangt ihnen deutlich mehr ab als sie bislang leisten wollen. Borussias Aussage, dass man sich während des Trainingslagers Testspielgegnern aus Ländern mit zweifelhafter Einstellung zu Menschenrechten verweigert, ist eine ziemlich armselige Version von „wasch mich, aber mach mich nicht nass“. Entweder ganz oder gar nicht.

Die Bigotterie auf die Spitze trieb Bayerns Rummenigge mit der dümmlichen Aussage, dass man nicht Dinge vermischen sollte, die nicht zusammen gehören. Traurig, dass er für diesen Nonsens kaum Widerspruch oder kritisches Nachhaken seitens der Medien erfahren hat. Der Profifußball trägt seinen verbindenden Charakter monstranzartig vor sich her. Die Vereine nehmen an Turnieren teil, die mit „Respect“- und „No to racism“-Kampagnen verbunden sind. Beide Vereine betonen in den Satzungen ihres eingetragenen Vereins „charakterliche Bildung“ und heben politische und konfessionelle Neutralität hervor. Und wenn man fordert, dass diese propagierten Werte mit Leben gefüllt werden und die Clubs gefälligst auch für sie einstehen sollen, dann will man damit nichts mehr zu tun haben.

Beides ist falsch. Es braucht kein wachsweiches Lavieren und keine Verweigerung. Keine Vereine, die abgeschottet von der Außenwelt in ihren Resorts verweilen und sich nicht um das kümmern, was außerhalb der Mauern der Anlage geschieht. Das wäre genauso falsch wie diese Länder und die Menschen einfach zu ignorieren. Es braucht noch mehr Vereine, die Länder wie Dubai, wie Katar oder wie Malaysia bereisen, dort aber aktiv den Kontakt und den Austausch suchen. Ihre Werte- und Moralvorstellungen erklären und vorleben. Niemand verlangt, dass der Fußball die Welt rettet und die Vereine im Handumdrehen für Gleichberechtigung und mehr individuelle Freiheiten sorgen. Aber sie können Prozesse in Gang setzen und unterstützen, die vielleicht Jahrzehnte dauern mögen und selbst dann nur kleine Veränderungen bewirken. Und trotzdem wird es genug Menschen geben, die dankbar für diese kleinen Veränderungen sind. Auf jeden Fall dankbarer als für totale Verweigerung, oder bequemes Sich-raushalten. Mit beidem überlässt man es nämlich den diskirminierten Menschen selbst, für ihre Rechte zu kämpfen und versagt ihnen dringend benötigte Unterstützung. Wer nicht nur von Menschenrechtsverstößen betroffen sein will, sondern tatsächlich Veränderungen herbei führen will, der kommt an einem intensiven kulturellen Austausch nicht vorbei.

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