Unsa Senf

Sagen Sie Tickets. Tickets! TIIIIICKEEEEETS!!!

01.04.2015, 09:55 Uhr von:  Nadja
Sagen Sie Tickets. Tickets! TIIIIICKEEEEETS!!!

Es gibt kaum einen BVB-Fan, der noch nie Opfer von ihr geworden ist. Manche verkraften den Psychoterror besser als andere. Ein tapferer Journalist hat bei den Opfern nachgefragt.

Es ist dunkel in dem Hinterhof und ich fühle mich nicht richtig wohl, doch die journalistischen Pflichten verlangen ihre Opfer. Ich treffe mich hier mit einem wichtigen Zeugen, der mir in diesem Fall weiterhelfen kann. Er ist kaum sichtbar in der Dunkelheit, seine Baseballmütze ist tief ins Gesicht gezogen, nur mit Mühe kann ich den Schriftzug „Dortmund“ erkennen.

Er möchte anonym bleiben und lieber nicht ins Licht der Öffentlichkeit treten – oder überhaupt ins Licht. Wie viele andere vor ihm ist er Opfer von einem bösartigen Psychospiel geworden. Er ist verzweifelt und psychisch labil. Sein linkes Auge zuckt unkontrolliert, als er mit leiser Stimme zu sprechen beginnt.

„Ich habe mir nichts dabei gedacht, als ich da zum ersten Mal angerufen habe. 2005 war das. In dieser Zeit war diese Technik noch neu und die schrille Stimme am anderen Ende ließ mich zusammenzucken.“ Es schaudert ihn, das ist selbst in der Dunkelheit sichtbar. Er erzählt mir, wie er in der Folgezeit immer wieder angerufen hat. Immer öfter mit nervösem Herzschlag und schweißnassen Händen. „Manchmal hatte ich Erfolg, das waren die schönen Tage, die die Hoffnung schürten. Meistens jedoch endete es in einer großen Enttäuschung.“ Je mehr Zeit ins Land ging, umso schwieriger und auch kostspieliger wurde das Unterfangen. Es dauerte immer länger, bis er durch kam. Es kam immer seltener vor. Und je seltener es passierte, umso nervöser wurde er.

„Meine Umwelt hat mich immer häufiger schief angeschaut, weil ich in mein Telefon stotterte ‚Ja‘, ‚Ja‘, ‚Tickets‘, ‚Stop‘, ‚STOP!‘, ‚Sch…‘. Sie hielten mich für verrückt. Manchmal saß ich auch mit drei Handys und zwei Festnetztelefonen vor meinem Computer und hab eine halbe Stunde lang nur auf „Wiederholen“ gedrückt.“ Wenn er dann durch kam, passierte es oft mit zwei Telefonen gleichzeitig, wodurch die Antworten auf dem einen Sprachcomputer den anderen so verwirrten, dass am Ende beide Leitungen zusammenbrachen. Ich habe Mitleid mit ihm, will ihn ein bisschen aufmuntern und frage daher nach seinen Erfolgen. Für einen Moment hebt sich sein Kopf und seine Augen beginnen zu strahlen. „Zweimal hab ich sie geknackt! Zweimal hintereinander!“ Er erzählt mir voller Stolz, wie er ein Ticket für das CL-Viertelfinale gegen Malaga ergattern konnte. Für die Südost-Ecke! Um 9:15!! „Ich konnte mein Glück kaum glauben, meine Knie haben gezittert, als ich meine Bankdaten eingegeben habe und nur noch beten konnte, dass nicht irgend ein Systemcrash mich noch rauswerfen würde. Doch es hat tatsächlich geklappt!“ und dann schaut er zum ersten Mal fast schon schelmisch aus den Augenwinkeln, als er von seinem ultimativen Triumph erzählt. Nur ein Spiel später beim CL-Heimspiel gelang ihm das Kunststück erneut. Diesmal war es die Nordtribüne und kurz nach 9, doch das war unwichtig. „Für das CL-Halbfinale! Ich hab nicht mal Tickets für Bielefeld auswärts bekommen, aber beim CL-Halbfinale kam ich durch!!!“ Sein hysterisches Lachen endet abrupt. „Das ist doch absurd.“ Er schaut mich fragend und verwirrt an, das triumphale Gesicht ist wieder dem nervösen Blick gewichen.

Freude, Leiden und Verzweiflung

„Einmal“, sagt er und schaut mich sehr ernst an, „da kam ich durch, hatte alles eingegeben. Ich war unterwegs zu einem Auswärtsspiel im Bus und auf einmal war die Leitung weg. Ein Funkloch in der niedersächsischen Provinz.“ Das Unglaubliche passierte und er kam nur kurze Zeit später wieder durch. Diesmal waren die Karten sogar noch etwas besser. Doch das System erkannte seine Kreditkartendaten nicht richtig. Er wollte stattdessen die Bankdaten eingeben, doch statt wie gefragt einen Schritt zurückzugehen, brach das System ab. „Ich saß am Boden im Bus, vorne auf der Treppe der Tür bei 100 km/h auf der Autobahn und schrie in mein Handy ‚Ja‘, ‚Tickets‘, Stop‘, ‚zurück‘, doch es war alles umsonst.“ Normalerweise gab es in solchen Situationen vor allem verwirrte und irritierte Blicke, in einem Bus voller BVB-Fans gab es aber vor allem eins: Mitleid. Jeder war schon mal derjenige gewesen, der vergeblich ‚Tickets!‘ ins Handy geschrieen hatte. Das machte es nicht besser oder einfacher, in dem Moment zu verkraften, dass es nichts werden würde mit dem Heimspiel gegen Real Madrid. Vielleicht war sein späterer Triumph im Halbfinale der verdiente Lohn dafür. Doch mein Zeuge war weit über den Punkt hinaus, seine kleinen Erfolge als Kompensation zu sehen. Vielmehr brachte ihn jede Niederlage etwas näher an den Nervenzusammenbruch. Und wie ihm geht es vielen. Ich treffe mich später am Westfalenstadion mit einem weiteren Opfer. Stefan K. ist psychisch stärker, auch wenn er ebenfalls schon vieles durchmachen musste. „Wenn ich durchgekommen bin, dann hat es eigentlich immer geklappt.“, weiß er zu berichten. „Was einen zur Verzweiflung bringt ist vielmehr die Warteschleife.“ Wenn man zu hören bekommt, dass man an Position Nummer 387 steht, kann einem das schon ziemlich mitnehmen. Auch das zweite Opfer erzählt mir von Ewigkeiten an drei Telefonen gleichzeitig, nur um nach 45 Minuten, wenn man endlich durchgekommen ist, sich durch die Fragen am Anfang gequält hat und das Herz einen kleinen Hoffnungssprung macht, zu hören zu bekommen „das Kartenkontingent für das von Ihnen gewünschte Spiel ist leider erschöpft. Herzlichen Dank, dass sie die Tickethotline von Borussia Dortmund angerufen haben.“

Nicht nur die Spiele kosten Nerven...

Ein dritter Zeuge taucht unverhofft auf. Er hat das Gespräch mitgehört und berichtet ebenfalls von traumatischen Erlebnissen: „Ich frage mich oft, ob mich die Spiele oder das Besorgen von Karten mehr Jahre meines Lebens gekostet haben. Ich glaube mit Ausnahme der beiden Champions League-Spiele zu Hause gegen Malaga und auswärts in Madrid ist die Antwort ganz eindeutig: die Tickethotline. Wenn ich noch einmal ‚Sagen Sie bitte Tickets‘ höre, dreh ich durch! Ich dreh durch…“ und er verschwindet so schnell, wie er gekommen ist, rennt verstört in die Nacht.

Ich packe meine Sachen zusammen und fahre nach Hause. Im Auto dreh ich die Musik ab, sie stört mich beim Verarbeiten des gerade Gehörten. Das sind alles keine Einzelfälle, da ist eine ganze Fangemeinschaft von traumatisierten Seelen, wie es scheint. Und ich frage mich, ob es nicht jemanden gibt, der diesen armen Menschen helfen kann. Ein Gruppentherapeut, ein Psychiater.
Oder ein Techniker…

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