Unsa Senf

Ein grausamer Abend im Westfalenstadion

09.09.2014, 11:56 Uhr von:  Redaktion

Eröffnungsshow in DortmundDeutschland zu Gast in Dortmund. Erstmals nach dem 22. März 2006 entschied ich mich dazu, mal wieder ein Länderspiel zu besuchen. Die Vorzeichen hätten nicht anders sein können - der Eindruck war jedoch der gleiche.

Mit 1:4 hatte die DFB-Auswahl am 1. März 2006 in Florenz verloren. In der deutschen Öffentlichkeit herrschte kurz vor der Heim-WM Weltuntergangsstimmung, der damalige Teamchef Jürgen Klinsmann stand extrem auf der Kippe. Doch nur drei Wochen später folgte seinerzeit ein 4:1-Erfolg im Westfalenstadion gegen die USA, die schwarzrotgoldene Welt war wieder in Ordnung. Ebenjenes USA-Spiel war mein zweites und bisher letztes Länderspiel - bis zum Sonntagabend.

Mehr aus Zufall als geplant sah ich mich im Sommer während der WM plötzlich in dem Besitz einer Eintrittskarte für das erste EM-Qualifikationsspiel gegen Schottland. Westfalenstadion, Südtribüne, Flutlicht - was normalerweise die Parameter für einen gelungenen Fußballabend sind, waren am Sonntagabend die Grundpfeiler einer Deformierung der westfälischen Fußballkultur, wie ich sie kenne und liebe.

Zahlreiche Müllers, Özils, Kroos' und Götzes

Nach dem schwarzrotgeilen Sommermärchen aus dem Maracana machte sich nun also die Nationalmannschaftsklientel auf den Weg in unser schwatzgelbes Stadion. Zahlreiche Müllers, Özils, Kroos‘ und - das fand ich am abstoßendsten - Götzes säumten die Strobelallee. Apropos Götze. Dem DFB müssen vor dem Länderspiel mächtig die Knie geschlottert haben. Man befürchtete anscheinend ein sehr kritisches Dortmunder Publikum, das den Siegtorschützen des WM-Finales mit einem standesgemäßen Empfang begrüßen könnte. Wie sonst ist es zu erklären, dass man Stunden vor dem Anpfiff ausgerechnet den Ur-Dortmunder Kevin Großkreutz zu einem entsprechenden Videoappell nötigt, der später auch noch im Stadion vor dem Anstoß über die Leinwand flimmerte („Hier in Dortmund wird kein Weltmeister ausgepfiffen.“). Dass der DFB seine Kritiker, gerade im Stadion, am liebsten mundtot machen möchte, ist ja nun kein Novum. Schade fand ich es aber, dass ausgerechnet Kevin sich als Kind der Südtribüne auf etwas derartiges Meinungsmanipulatives eingelassen hat.

Das Publikum im Stadion setzte sich überwiegend aus Personen zusammen, die man im normalen Bundesliga-Alltag nicht - oder zumindest nicht in dieser Ballung - antrifft. Da war das schwarzrotgeile Partyvolk mit albernen Hüten und Hawaii-Ketten, die schwarzrotgeil angepinselten Mädchen („Götze ist soooo süß!“) und der mittelalte Ehemann, Typ mittelständischer Unternehmer, der seine Frau, stilecht mit Fernglas ausgestattet, mal mit zum Fußball auf die Südtribüne nimmt - beide natürlich topmodisch gekleidet, man will sich ja nicht blamieren.

Wundert sich der DFB über 5.000 freie Plätze?

Wenn man nun jedoch vorhatte, sich dieses provisorische Umfeld in seinem eigenen Wohnzimmer schönzutrinken - weit gefehlt! Dank der grandiosen UEFA-Vorgaben wurde selbst hier nur alkoholfreies Bier ausgeschenkt (eine Cola kostete dann übrigens 4 € zzgl. 3 € Becherpfand!). Nicht, dass man sich hinterher noch mit 28 Bier im Kopf mit den mindestens 5.000 Schotten eine zünftige Wirtshausschlägerei liefert. So ein Quatsch, die Stimmung zwischen den Deutschen und Schotten war super, allerorten fanden in der Stadt gemeinsame Fanfeste an und in den Kneipen statt. Anmerkung am Rande: Vor dem Spiel war es der Polizei möglich, in zivil mit Schirmmütze und Hemd statt Helm und Schlagstock, präsent zu sein - ein Vorbild für den Liga-Alltag.

Naja, und bodenständiges, fanorientiertes Handeln war noch nie die Stärke der versnobten UEFA-Anzugträger. Wie auch sonst ist - Hand in Hand mit dem DFB - eine Anstoßzeit am Sonntagabend um 20.45 Uhr(!) zu erklären? Einerseits aufgrund dieser Tatsache, doch andererseits sicherlich auch aufgrund der horrend hohen Kartenpreise - die 25 € auf der Südtribüne waren noch ein echtes Schnäppchen - blieben rund 5.000 Plätze im Stadion leer. In der Frankfurter Otto-Fleck-Schneise grübelt man sicherlich immer noch, wie es dazu kommen konnte. Man ist doch Weltmeister und alles ist so toll!

Stadionanlage bis zum Anschlag aufgedreht

Gewinnspiel in der StadionzeitungDoch zurück zum Geschehen im Stadion. Spätestens seit dem oben bereits erwähnten DFB-Videoappell und dem Gefühl, dass mich der DFB als zahlenden Kunden und stillschweigenden Konsumenten ansieht, waren meine Sympathien klar verteilt: Ich wollte einen schottischen Auswärtssieg sehen! Der DFB gab sich auch alle Mühe, kritischen Stimmen kein Gehör zu verschaffen. Die Stadionanlage wurde anscheinend bis zum Anschlag aufgedreht, sodass selbst persönliche Gespräche mit dem Nebenmann nur in Form eines Schreidialogs möglich waren. Besonders grausam für die Ohren wurde es, wenn die Party-Moderatorin des DFB durch das Rahmenprogramm führte und die hohe Stimme mit gefühlten 200 Dezibel das Trommelfell malträtierte.

Normalerweise ist übrigens einer der wenigen Vorteile an UEFA-Spielen, dass der unsägliche offizielle Stadionname aufgrund eigener Sponsorenverträge des Kontinentalverbands keine Erwähnung finden darf. Zwar war das Match am Sonntag auch ein UEFA-Spiel, doch der offizielle Stadionname durfte anscheinend problemlos benutzt werden, was die DFB-Moderatorin auch bis zum Exzess tat - als wollte sie mich persönlich oben in Block 81 ärgern.

Währenddessen blätterte ich etwas lustlos in der „aktuell“, dem kostenlos verteilten Stadion-Hochglanzmagazin des DFB. Das Gewinnspiel am Ende der Ausgabe war dabei auch für ein Spiel in Dortmund standesgemäß übertitelt. Hinsichtlich zu gewinnender Eintrittskarten für das Länderspiel am 14. Oktober in der Turnhalle hieß es dort: „Mit euch nach Schalke!“ Da will doch nun wirklich keiner hin. Das ist kein Gewinn, das ist eine Strafe!

"Die Nummer eins im Pott sind wir!"

Keine Live-Bilder auf der LeinwandDem gemeinen Nationalmannschaftskonsumenten wurde anschließend vor dem Anstoß noch eine tolle Eröffnungsshow geboten - nun erhält diese Unsitte also auch Einzug in mittlerweile sportlich fast wertlos gewordene Quali-Spiele - sorry, European Qualifiers. Vor dem Anstoß ließ man auf deutscher Seite Manuel Neuer noch eine Botschaft verlesen - was mich und meine Nebenleute in einen Zwiespalt brachte. Wir hätten den Blauen im Herzen gerne ausgepfiffen, doch hätte dies falsch gedeutet werden können, sprach sich Neuer da unten doch gerade gegen Rassismus aus. „Die Nummer eins der Welt sind wir“, schallte es im Anschluss an eine solche Botschaft absolut pietätvoll von den Tribünen. „Die Nummer eins im Pott sind wir“, zu dieser Abwandlung konnte auch ich mich dann aber doch auch durchringen und rief eifrig mit.

So sehr der DFB normalerweise die Interessen der Fußballfans missachtet - in einem Punkt bewies er ein gutes Gespür für den Charakter seiner zahlenden Kunden im Westfalenstadion. Anja, Tanja und Ingo scheinen von dem heimischen Fernseher gewohnt zu sein, dass man nach den Spielszenen noch einmal in Ruhe die Wiederholungen anschauen kann, um nach dem siebten Betrachten einer Situation dem Schiedsrichter völliges Versagen vorwerfen zu können. „Das UEFA-Reglement erlaubt leider keine Live-Übertragung im Stadion“, war daher während des gesamten(!) Spiels immer mal wieder auf den vier Leinwänden zu lesen. So ab der 10. Minute hatte ich diese Botschaft dann eigentlich auch verstanden.

Sprechchöre für Mario Götze ein Stimmungstiefpunkt

Das Spiel plätscherte mehr oder weniger dahin. Gerade in der zweiten Hälfte dürfte mancher Event-Fan sein Kommen bereut haben. Aus der rauschenden Weltmeisterparty wurde nichts, plötzlich glichen diese - wie heißt der Gegner noch? ach ja - Schotten sogar aus. Welch ein Frevel. Das können die doch nicht. Wir sind der Weltmeister! Aber glücklicherweise stocherte Müller den Ball wenig später zum 2:1 über die Linie, sodass wenigstens noch etwas Party möglich war. Zuviel wurde es dann jedoch definitiv, als ausgerechnet auf der Südtribüne plötzlich „Mario Götze“-Sprechchöre losbrachen. Entsprechende gegenteilige, für Interpretation wenig Spielraum lassende Meinungsbekundungen ließen die Fans des Finalhelden doch etwas irritiert und pikiert dreinblicken.

Unterm Strich bleibt also dieses Fazit: Ich überlasse zumindest die Heimspiele der Nationalmannschaft gerne der entsprechenden Klientel. Mich nervt dann nicht mehr die Deformation der Fußball-Fankultur (irgendwie befürchte ich bei der aktuellen Entwicklung jedoch, dass genau so in zehn oder zwanzig Jahren auch der Bundesliga-Fußball im Stadion zu erleben ist) - und die Tagesfahrer können in Ruhe ihre Weltmeister-Sause im Stadion ohne miesepetrige Vereinsfans wie mich feiern. Ich weiß jetzt wieder, warum ich acht Jahre kein Stadion für Länderspiele betreten habe. Es bleibt jedoch ein Wermutstropfen: Demnächst muss ich dann stattdessen die Quali-Spiele bei einem Kölner Krawallsender erleben...

Daniel Mertens, 09.09.2014

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