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Zeitzeugengespräch mit Siegmund Plutznik

17.11.2014, 20:28 Uhr von:  Redaktion

Siegmund Plutznik im GesprächEs war ein besonderer Abend am 13.11.2014 im Borusseum. In Kooperation mit dem Borusseum und der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache veranstaltete der Heimatsucher e.V. im Museum ein Zeitzeugengespräch. Der Heimatsucher e.V. hält engen Kontakt zu Überlebenden des Holocaust und hat sich zum Ziel gesetzt, ihre persönlichen Lebensgeschichten zu bewahren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Welches großes Interesse daran besteht, konnte man schon an der Besucherzahl ablesen. Die ca. 200 Besucher überstiegen die Zahl der verfügbaren Sitzmöglichkeiten zumindest bei weitem. Die Moderation übernahmen von Seiten des BVB Vorstandsmitglied Herr Dr. Lunow und der Fanbeauftragte Daniel Lörcher.

Als Zeitzeuge vorgesehen war eigentlich der in Marl geborene, leidenschaftliche BVB-Fan Rolf Abrahamssohn, der jedoch leider kurzfristig aus Krankheitsgründen absagen musste. Aber schon der zehnminütige Überblick von Ruth-Anne Damm von den Heimatsuchern über die Geschichte von Herrn Abrahamsohn ließ den Saal verstummen. Eine Zusammenfassung seiner Lebensgeschichte könnt ihr hier nachlesen.

Für die folgenden Zeilen möchte ich gleich um Entschuldigung bitten, wenn ich nicht die richtigen Wörter finde. Das ist bei weitem nicht der erste Text, den ich verfasse, aber ich glaube, dass es noch nie so schwer war, Gedanken in Worte zu fassen, ohne dass sie missverständlich und unangemessen vom Leser aufgefasst werden können. Die Geschichte von Siegmund Plutznik aus Frankfurt, der dankenswerterweise kurzfristig für Herrn Abrahamsohn eingeladen werden konnte, ist nämlich anders als man es vielleicht erwartet hat. Er ist aufgewachsen in einer Stadt in Polen, nur 8 km von der damaligen Grenze zu Deutschland entfernt. Eine Stadt mit einer historisch gewachsenen, jüdischen Gemeinde. Als die Nazis in Polen einmarschierten, war er nach eigenem Bekunden sogar beeindruckt von der Disziplin, dem geordneten Auftreten der deutschen Armee. Zu Beginn wirkte es auf ihn so, als wären diese Besatzer gar nicht so schlimm und brutal wie befürchtet. Später schloss er sich dem Widerstand an und flüchtete über Österreich und die Türkei nach Palästina. Von den 300 Menschen seiner Gruppe erreichten 45 Überlebende das Ziel.

Siegmund Plutznik erzählt von seiner FluchtWas Herr Plutznik in dieser Zeit er- und durchlebt hat, stellte zumindest an mich eine ganz besondere Anforderung. Er fasste es selbst vielleicht am besten zusammen, als er im Anschluss an die Vorstellung des Lebens von Herrn Abrahamsohn fragte, was er überhaupt noch erzählen solle. Im Gegensatz zu ihm wäre er niemals in einem Lager gewesen, hätte auch keine körperliche Gewalt erleiden müssen. Holocaust, das sind für mich bis gestern Konzentrationslager gewesen. Ausschwitz, Buchenwald, Bergen-Belsen. Man kennt die Namen und die grauenvollen Bilder. Es fällt einem geradezu peinlich leicht, dabei die Betroffenheit zu verspüren, die man selbst als dem Thema angemessen erachtet. In den Erzählungen von Herrn Plutznik ging es aber auch darum, dass Schulunterricht verboten und wie er trotzdem, mit Unterstützung seiner Eltern, heimlich und unter Gefahr in einer kleinen Lerngruppe unterrichtet wurde. Eine Entdeckung hätte für alle Teilnehmer und deren Familie wohl den Tod bedeutet. Dass er im November in den Kleidern überleben musste, mit denen er im Hochsommer von Zuhause geflüchtet war. Auch das gehört mit zum Schicksal der Juden in der NS-Zeit. Für mich bestand im ersten Moment die Schwierigkeit, diese Teile im Gesamtkontext zu sehen und nicht isoliert, wo sie vielleicht kleiner und als „nicht so schlimm“ wirken. Würde man das tun, bedeutete das in letzter Konsequenz eine Denkweise, nach der die Geschichte der jüdischen Mitbürger im Nationalsozialismus viel weniger bedrückend seien, wenn es die Konzentrationslager nicht gegeben hätte. Damit banalisiert man gleichzeitig die Schicksale von Juden, die enteignet, geflüchtet und misshandelt wurden, allerdings doch das Glück hatten, einer Deportation in ein KZ zu entkommen.

Das Grauen, von dem er erzählte, war nicht so offenkundig, aber deshalb nicht weniger existent. Er erzählte von der Synagoge in seinem Heimatdorf, die von den Nazis angezündet wurde, nachdem man ungefähr 400 jüdische Bewohner seiner Stadt dort eingesperrt hatte. Wie er sich einer Partisanengruppe, die sich in einem Wald versteckte, anschließen wollte und dabei von einem angeblichen Widerstandskämpfer in einen Hinterhalt gelockt werden sollte, der bereits zwei Gruppen vor ihm in einen Wald geführt hatte, wo sie erschossen wurden und nur ein einziger Mann überlebt hatte, der seine Gruppe anschließend warnen konnte. Wäre er in eine der ersten beiden Gruppen zugeteilt worden, oder hätte nicht ein einziger der zweiten Gruppe überlebt, wäre er dort wahrscheinlich ebenfalls gestorben. Vermutlich auch etwas, das die Überlebenden heute noch belastet. Dort Glück gehabt zu haben, wo viele andere es nicht hatten. Eine Erfahrung, die ihn dazu bewog, doch nach Palästina zu emigrieren, statt weiterhin im polnischen Widerstand zu verbleiben.

Beendet wurde das Zeitzeugengespräch mit einer Fragerunde, wobei mir eine Aussage von Siegmund Plutznik besonders im Gedächtnis geblieben ist: Er wisse nicht, ob er, wäre er Deutscher gewesen, ähnlich gehandelt hätte wie z.B. die Geschwister Scholl. Das wären Helden gewesen, weil sie etwas getan haben, wozu sich die meisten eben nicht überwinden konnten. Eine offene und ehrliche Antwort auf eine Frage, die sich vermutlich auch schon viele von uns mal gestellt haben. Wären wir damals wirklich besser gewesen als Millionen andere Deutsche und hätten Widerstand geleistet? Zumindest besteht die Verpflichtung dafür zu sorgen, dass solche Fragen einfach nur Gedankenspiele bleiben dürfen.

Ein Dank an alle Organisatoren und an Herrn Plutznik für einen beeindruckenden Abend. Wer mehr über die Schicksale der Schoah-Überlebenden wissen möchte, dem sei im Januar eine Ausstellung der Heimatsucher in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache ans Herz gelegt.

Fotos: Jimmy - Fanabteilung

Sascha, 17.11.2014

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