Eua Senf

Wahre Liebe

12.11.2014, 06:50 Uhr von:  Gastautor
Wahre Liebe

Aufregung vor dem ersten Date. Schlecht geschlafen, kein Appetit. Wird es gut, ermüdend oder ne Totalkatastrophe? Und was zieh ich bloß an? Eigentlich mach ich ja sowas nicht und die Frage, wieso doch, werde ich mir an diesem Tag noch öfter stellen. Es ist Sonntag und mein Date heißt Borussia. Borussia Dortmund.

Alle sagen, Julia hasst Fußball. Soweit würde ich nicht gehen. Es sei denn, es hat was mit Helene Fischer und dem Gauchogate zu tun. Ansonsten löst Fußball bei mir gewöhnlich keine Emotionen aus. Fußball ist für mich, was für Bundeskanzlerinnen das Internet ist: Neuland. Kaum Berührungspunkte, kaum Erfahrungswerte. Für ein Arbeiterkind im Ruhrgebiet vielleicht schlecht sozialisiert: Keine Brüder und ein Vater, der sich – wenn überhaupt zum Thema Fußball – dann abfällig über Gelsenkirchen äußert. Keine schlechte Voraussetzung eigentlich.

Später richtige Freunde. Alle Borussen. Auf geht’s Dortmund! Forza BVB! Schwarz und Gelb olé! Jaja. Was soll das? Eine Liebe, die für alle Zeiten hält, im schönsten Stadion der Welt? Harte Kerle und ewige Liebe. Echte Liebe. Süß. Muss man mal gesehen haben, heißt es, ein Heimspiel, 80.000 Fans, das „schönste Stadion der Welt“. Wobei „sehen“ das falsche Wort ist. Man muss es fühlen.

Harter Zweikampf: Micky gegen Nordveit

Okay. Der elfte Spieltag, kein Sieg seit September, Tabellenletzter der Bundesliga. Nicht nur ich fühl mich an diesem Tag eher mulmig. Und dass auf den letzten Platz der Ersten Liga nicht der erste Platz der Zweiten Liga folgt, hab ich auch irgendwann kapiert. Also los, Risikospiel gegen Mönchengladbach. Gurkentruppe, Schwachsinnsclub, „wir schmeißen Stein auf Stein auf die Elf vom Niederrhein“. Verstanden. Eigentlich habe ich Angst vor Massen und Panik, aber die (übrigens exzellente) Fanbetreuung versichert mir, das kommt nur bei Toren vor. Und das ist ja nicht so oft. Mama sagt noch so: „Zieh keinen Kapuzenpulli an, sonst siehst du noch aus wie ein Hooligan.“ Aber was weiß die schon von Fußball? Was weiß ich schon von Fußball?

Erstmal Rote Erde. Mutbier. Aha, Familien sind auch hier, Kinder, Ältere und Frauen, viele junge Frauen. Das Trikot dann immer so kombiniert, dass es möglichst modisch die Figur betont. Einige in Stöckelschuhen. Versteh ich nicht. Blondine Eins zu Blondine Zwei: „Wir müssen unbedingt in der Champions League was reißen, im UEFA Cup sind nur Sonntagsspiele – da hab ich kein Bock drauf!“ Genervte Zustimmung: „Boah echt.“ Zicken im Fußball? Und ich dachte immer, ich sei fehl am Platz. Ich dachte – auch auf die Gefahr eines Feministen-#aufschrei-Shitstorms hin – Fußball sei Männersache.

Allerdings gibt es im Westfalenstadion zwar einen Hort für Kleinkinder bis drei und einen für Kinder bis zehn Jahre. Einen Frauenhort aber gibt es nicht, die findet man auf den Tribünen. Aus Liebe zum Verein – oder zum Ehemann. Jedenfalls sind Gefühle im Spiel: Aufregung, Enttäuschung, Ärger, Sehnsucht, Wut, Freude, Glück und die unermüdliche Hoffnung. Echte Liebe eben.

Und am Ende endlich wieder schwatzgelber Jubel
Da stehen dann also 80.000 Menschen und bringen 90 Minuten lang elf Menschen ihre bedingungslose Liebe entgegen. Manche brüllen, beleidigen und fluchen; manche sind regungslos, gebannt, schlicht versteinert vor Anspannung. Wenn aber die Trommel der Südtribüne in der Magengegend wummert und die Herzfrequenz vorgibt, kann sich eigentlich niemand entziehen und alle 25.000 Stimmen erheben sich zur Dauerschleife: „Auf geht's Dortmund, kämpfen und siegen, weil wir dich so lieben, gewinnst du dieses Spiel für uns!“

Und weil sie die Borussia so lieben, gewinnen sie dieses Spiel.

58. Minute: Tor für BVB. Alle Arme hoch. Luftsprünge, Jubeleskalation, Umarmungen. Steine fallen von zig tausenden Herzen. Glücksgefühle. Liebe.

Dabei läuft es eigentlich wie immer, die Dortmunder spielen durchweg erstklassig, aber der Gegner schießt eins rein. Macht ja nix, Sieg ist Sieg und verdient ist verdient. Dieser Kramer hatte ja seit der WM Orientierungsprobleme. So wie ich, die sich plötzlich mitfreut, mit Adrenalin im Körper und einem fetten Grinsen im Gesicht, als ich an der Heimweg-Tanke auf dem Klo einen Vater mit Kleinkind vorlasse und er sich überschwänglich bedankt mit den Worten: „Du bist Borussin, oder?“

geschrieben von Julia Rathcke

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