Spielbericht Profis

Man hatte es sich ja schlimm vorgestellt?

23.01.2012, 16:35 Uhr von:  Redaktion

Seit jeher eines der beliebtesten Auswärtsspiele des Jahres und noch dazu der Rückrundenauftakt des deutschen Meisters, der auf dem geschundenen, mönchengladbachesken Kartoffelacker nicht über die eigenen Füße stolpern wollte – es gab schon eine Menge Anlässe, sich auf das Spiel beim HSV zu freuen. Wenn, ja wenn diese geradezu frech anmutende Preispolitik nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte.

Wir erinnern uns: In der vergangenen Saison regte sich erstmals erheblicher Widerstand, als der HSV unverfroren hohe Preise aufrief und selbst die gewohnt saftigen Forderungen mit neuen Aufschlägen versah. Es wurde mit Boykott des Spiels gedroht, der HSV lenkte ein und zeigte sich für Gespräche mit den Fans offen – mit dem erklärten Ziel, eine gute Lösung für alle Seiten finden zu wollen. Auf den Boykott wurde verzichtet, stattdessen gab es eine gemeinsame Kundgebung der Dortmunder und Hamburger Fans in der Innenstadt sowie Proteste im Stadion.

Es hieß damals: Der HSV soll die Gelegenheit bekommen, eine neue Preisstruktur zu erarbeiten und die neue Saison unter anderen Voraussetzungen anzugehen. Tatsächlich passierte in der Sommerpause so gut wie nichts, der Vertrauensvorschuss erwies sich aus Sicht der Fans als ungerechtfertigt. An einem Boykott führte kein Weg mehr vorbei.

Kein Zwanni Protest in HamburgWir mussten uns nun die Frage stellen, ob wir diesen Spielbericht überhaupt schreiben möchten. Aus dem Stadion heraus, während unsere Freunde draußen in der Kälte stehen und jeden weiteren Mann brauchen könnten. Doch der Schritt eines Boykotts erschien uns zu wichtig, als dass wir die Berichterstattung über die Stimmung im Stadion Dritten überlassen sollten. Wir entschieden uns für einen etwas anderen Bericht, der zumindest das Geschehen auf dem Rasen nicht zum Gegenstand haben soll – im Stil der guten, alten Radiokonferenz.

15.15 Uhr: Hey, hier ist Hamburg! Nieselregen bei kühlen 5° soll uns im Stadion nicht stören – für den Boykott sind es ziemlich miese Nachrichten. Im Hauptbahnhof und der Stadt ist es vorhin schon ziemlich kuttig zugegangen, viele hatten vom Boykott gar nichts mitbekommen. Gibt es heute tatsächlich noch so viele Leute, die überhaupt keinen Kontakt zur Fanszene haben, weder Zeitung lesen noch Radio hören oder sich durchs Internet klicken? Da haben die lustigen Perücken wohl Augen und Ohren verstopft.

15.25 Uhr: Es meldet sich die Außenstelle! Vor dem Stadion haben sich bereits gute 500 Fans eingetroffen. Weitere kommen dazu, bei diesem Wetter kein schlechter Wert. Das Spiel ist nicht ausverkauft, die Tageskassen haben geöffnet.

15.28 Uhr: Im Stadion sind die Heimbereiche gut ausgelastet, der Stehplatzbereich im Gästeblock ebenfalls. Im Oberrang sind aber Lücken zu erkennen, möglicherweise fehlen hier 200 bis 300 Leute. Der Blick schweift, Fahnen hängen so gut wie keine – die Meisten haben sich dem Boykott angeschlossen, nur die Ruhrfighter und Moers (kopfüber) sind im Stadion zu entdecken.

Kaum Fahnen im diesmal langweiligen Gästeblock15:33 Uhr: Wir sind gespannt: Heute werden all diejenigen ihre Chance bekommen, die den Ultras schon immer schlechte Stimmung nachsagten und eins auswischen wollten. Die ersten zaghaften Ansätze stimmlicher Qualitäten verleiten uns zu einer Wette: Wann werden wir Scheißessnullvier am heutigen Tag erstmals hören dürfen?

15.38 Uhr: Im unteren Stehplatzbereich versuchen sich rund 15 schwarz gewandete Herrschaften im Einheizen des Gästeblocks. Fäuste werden kurzzeitig gen Himmel gestreckt, jetzt geht es wohl gleich los.

15.40 Uhr: Noch will das alles nicht so richtig klappen, es fehlt die Struktur. Die Heimtribüne scheint eher mäßig motiviert, es fehlt der Gegner. Immerhin gibt es ein Spruchband gegen hohe Eintrittspreise, das sich nur sehr gemächlich von seiner Befestigung lösen lässt. Ein Omen?

15.44 Uhr: Wer nicht hüpft, der ist ein Scheißer! Endlich, wir hatten schon befürchtet, den Gästeblock überhaupt nicht hören zu können. Danach wieder Stille.

15.47 Uhr: Das 0:1 von dem Mann, der ausnahmsweise wohl selbst lieber draußen gestanden hätte. Der Torjubel im Stimmungszentrum der wackeren 15 gereicht dem FC Bayern zur Ehre.

Kein Zwanni Spruchbänder beim HSV15.52 Uhr: Der Hamburger Oberrang tut sich ein wenig hervor, sonst insgesamt recht maue Stimmung heute. Für uns steht fest: Hamburg braucht keine Elbphilharmonie, das Opernpublikum geht ins Stadion. Von den Preisen kommt es ja in etwa hin.

15.55 Uhr: Wer heute zum ersten Mal ein Stadion von innen sieht, wird es wohl nicht vermissen. Spielerische Not beim HSV trifft auf Stimmungselend beim BVB.

15.57 Uhr: Auch auf der Pressetribüne kehrt allmählich Langeweile ein, die Blicke schweifen immer weiter durchs Stadion. Da pfeift die rechte Seite und raunt, weil sie mit der Leistung ihrer Mannschaft nicht zufrieden ist, die linke Seite stellt sich tot.

15.59 Uhr: Heute drängen sich die schiefen Vergleiche aber auf: Die Liedauswahl im Gästeblock ist ähnlich kreativ und vielfältig wie das Aufbauspiel des HSV. Unterbrochen wird das bunte Treiben vom hemmungslosen Torjubel der 15.

16.03 Uhr: Was machen eigentlich die Jungs vor dem Stadion? Höchste Zeit für die nächste Schaltung, doch in diesem Stadion gibt es einfach kein Netz. Dass die O2-World schräg über die Straße liegt, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Muss wohl an den Radiowellen liegen, die hundertfach die Handywellen überlagern. Oder so.

Stehen im Regen - Boykott beim HSV16.05 Uhr: Zeit für eine gute Tat: Bei der Frankfurter Rundschau fragt man sich beim Blick auf Jürgen Klopp, was denn bitte schön ein Pöhler sein soll? Wir leisten Aufbauhilfe in westfälischer Mundart (Anm. für Jessica Castrop: Ja, Pöhler heißt auf Deutsch Kicker!), bis der Kollege zur Feststellung gelangt: „Also Dortmund-Publikum ist heute ja gar nicht hier, man hört die ja gar nicht.“ Wir entgegen ein freundliches „Dann schreiben Sie das bitte genauso in ihrem Bericht“ und versuchen uns an Morsezeichen nach draußen.

16.08 Uhr: Er wird den Rest seines Lebens von diesem Tag träumen: Mit nacktem Oberkörper und Hans-Hubert-Vogts-Gedächtnis-Frisur auf dem Zaun stehen und vor dem Stehblock den Larry machen – die wackeren 15 sind begeistert! Sonst eher so mittel, also eher gar nicht.

16.09 Uhr: Mitch Langerak ärgert sich wohl ebenfalls, nicht vor dem Stadion stehen geblieben zu sein – Stimmung und Getränke wären dort wohl besser gewesen als auf dem Platz, ernsthaft gebraucht wird er hier ja eigentlich nicht.

16.13 Uhr: Er hatte den Zaun kurz verlassen, doch er weiß es und wir wissen es auch: Es geht nicht ohne ihn! Der oben-ohne-Vorsänge ist wieder da und tadaa, Deutscher Meister wird nur der BVB!

16.14 Uhr: Warum hatte er den Zaun eigentlich verlassen? Wir diskutieren uns die Köpfe heiß, können uns aber nicht einigen, ob er im Suff herunter gefallen ist oder von einem Ordner zum Herabsteigen bewegt wurde. Wir bitten um sachdienliche Hinweise!

16.17 Uhr: Halbzeit, hurra! Zeit für eine Schaltung nach draußen. Jungs, wie isses?

16.18 Uhr: Gut isses! Zwischen 500 und 800 Leute sind gekommen. Es hätten mehr sein können, bei diesen widrigen Umständen ist das aber schon ein recht großer Erfolg. Die Stimmung hier ist gut, vor allem hören wir erst die Tore aus dem Stadion und dann die Bestätigung aus dem Radio – doppelter Torjubel also, hier steht es locker 4:0.

16.20 Uhr: Zeit für ein Zwischenfazit: Ziemlich gelungene Aktion bislang, es haben sich kleinere Inseln um Radios gebildet. Manche haben einfach Stimmung gelauscht oder sich mit Leuten unterhalten, zu denen der Kontakt in den letzten Jahren etwas abgenommen hat. Alles zusammen recht entspannt und angenehm hier. Die Polizei hält sich zurück, die Medienvertreter scheinen dafür sehr interessiert. Ein christlicher Hamburger Fanclub schenkt Kaffee und Tee aus. Die Ungläubigen halten bevorzugt Abstand.

16.25 Uhr: Nochmal die Außenstelle hier: Bitte richtet dem neuen Vorsänger schöne Grüße von denen aus, die vor dem Stadion für faire Ticketpreise demonstrieren. Junge, du bist der Größte!

16.33 Uhr: Danke für die Berichte von draußen, wir übernehmen wieder. Die zweite Hälfte beginnt mit dem Stimmungsboykott der Hamburger rund um CFHH. Zwei Spruchbänder sind zu sehen („Ticketpreise senken jetzt“ / „Fußball als Volkssport erhalten“) und es ist gespenstig ruhig im Stadion.

16.41 Uhr: Wer nicht glaubt, dass es hier mucksmäuschenstill ist: Eine Megaphondurchsage auf der Nordtribüne ist nun auf der gegenüberliegenden Seite des Stadions zu hören.

16.42 Uhr: Die ersten zehn Minuten sind vorbei. CFHH beendet den Protest, sorgt mit vielen Doppelhaltern, Konfetti und lauten Gesängen für den ersten sehenswerten Kurvenmoment des heutigen Tages.

16.45 Uhr: Derweil gerät Rainer Wendt in Erklärungsnot: Die Ultras stehen vor dem Stadion, doch nach dem 0:3 zieht gelber Rauch über das Feld. Können wir da einen O-Ton haben?

Fans im Regen16.48 Uhr: Hans-Hubert hat verstanden: Ohne ihn wird das heute nichts mehr. Mit verdecktem Astralkörper zieht er diesmal in die Schlacht, schon wieder werden wir deutscher Meister! Jetzt aber alle aufstehen, die deutscher Meister sein wollen!

16.50 Uhr: Haben wir das gerade richtig gesehen? Nochmal prüfen.

16.51 Uhr: Tatsächlich, die Großaufnahme auf dem Monitor bestätigt: Hans-Hubert trägt ein „Kein Zwanni“-T-Shirt und wird von einer Frau unterstützt. In Moonboots.

16.53 Uhr: Bei so viel Aufregung kann schon mal das Monokel ins Sektglas fallen. Irgendwer ein Putztuch dabei?

16.55 Uhr: Der Unterrang der Nordtribüne hat den Stimmungsboykott nun scheinbar ebenfalls als Motto ausgerufen. Das Stadion wird als ausverkauft gemeldet, wohl wissend, dass es draußen noch Karten geben soll. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

17.02 Uhr: Auf den Rängen passiert etwas mehr als in der ersten Halbzeit, insgesamt aber trotzdem nicht so viel. Eine hervorragende Gelegenheit, um sich über Dissertationen sowie Gott und die Welt auszutauschen. Zugegeben, über Gott eher weniger und über Hans-Hubert ein bisschen mehr.

17.05 Uhr: Bei Kubas Elfmeter blitzen die Kameras im Gästeblock.

17.06 Uhr: Beim HSV setzt die größte Flucht seit Attilas Raubzügen ein, die Zuschauer verlassen in Heerscharen das Stadion. Wir haken unsere Liste der wichtigsten Fußball-Radiofloskeln ab, doch Hans-Hubert weiß: Jetzt wird das ein Selbstläufer, alle Mann Taschentücher raus und oh wie ist das schön. Aber wirklich alle Mann jetzt, verdammt Hacke!

17.07 Uhr: Vor dem Stadion steht es bereits 10:0, dort ist Borussia schon Tabellenführer!

17.11 Uhr: Es steht 5:1, auf dem Rasen wird es nochmal eng. Der Gästeblock reagiert geschockt und bewegt sich über drei Minuten hinweg nicht einmal mehr. Ernsthaft?

17.15 Uhr: Die wenigen verbliebenen Hamburger zeigen nochmal, wie man das mit Stimmung so macht: „Und ihr wollt Deutscher Meister sein?“

17.19 Uhr: Der Imperator hat Einsehen und pfeift das Spiel ab. Die Hamburger Teile des Stadions sind bereits bis auf den letzten Platz geräumt, der Gästeanhang feiert die Mannschaft frenetisch.

Fussball muss bezahlbar sein

17.30 Uhr: Zeit für ein Fazit aus dem Stadion: Wir hatten es uns schlimm vorgestellt, die Realität war noch schlimmer. Beim HSV regierten Lustlosigkeit und große Erwartungshaltung – der Gästeblock war gut gefüllt, trotzdem nur sehr selten zu hören. Zeitweise ging es sogar recht lebhaft zu, doch aus der Erfahrung der letzten Jahre muss man einfach feststellen, dass der Gästeblock nicht ein einziges Mal an die übliche Hamburger Lautstärke anknüpfen konnte. Die Liedauswahl war ohne TU-Vorsänger keinesfalls vielfältiger, es waren stattdessen die gleichen Lieder wie immer und fehlten jegliche spontane Elemente. Richtig dramatisch wurde es aber erst, wenn man sich in der übrigen Kurve umsah: Ohne die Lautstärke des Gästeblocks erinnerte die linke Hälfte des Stadions frappierend an unseren Ausflug nach Highbury. Wir hätten es uns vor dem Spiel nicht träumen lassen, doch die hohen Preise scheinen beim HSV schon ihren Tribut verlangt zu haben. Die Verantwortlichen beider Vereine müssen die Situation wahrgenommen haben und sind gefordert, entgegenzuwirken.

Stimmen

Sven Bender: „Wir müssen uns für die Unterstützung heute bedanken. Es ist unglaublich, wie viele heute gekommen sind und dass trotz des Boykotts so viel los war. Natürlich ist es ein bisschen schade, dass ein großer Teil heute nicht im Stadion war, auch wenn man sie verstehen kann.“

Sebastian Kehl: „Durch die fünf Tore waren unsere Fans zumindest lauter und stärker zu hören als die HSV-Fans. Kevin hat mir die Aktion vor dem Spiel ein bisschen erklärt, weil ich es nicht ganz verstanden habe. Aber 20 Euro für einen Stehplatz ist natürlich eine Menge Holz. Es ist schwer für mich, das zu bewerten. Die Fans haben so entschieden, aber ich freue mich, dass sie das nächste Mal wieder im Stadion sind.“

Nobby Dickel: „Ich weiß, dass heute einige Leute vor dem Stadion geblieben sind. Das hat man gesehen, es ging auch leiser zu als sonst. Während des Spiels hatte ich Kopfhörer auf und kann leider nicht viel sagen, außer dass ich die Stimmung – mit Kopfhörern – als Weltklasse empfunden habe.“

Kevin Großkreutz: „Ich kenne ja einige von denen, die draußen standen. Und klar war die Stimmung im Block heute wesentlich schlechter als sonst.“

Auf die augenzwinkernde Frage, ob es aufgrund der beiden Auswärtssiege bei den Blauen und beim HSV aus Aberglaube nicht öfters einen Boykott geben sollte:

Kevin Großkreutz: „Wir haben ja auch schon auswärts gewonnen, wenn alle unsere Fans dabei waren und es keinen Boykott gab. Die sollen endlich alle zurückkommen und dann ist wieder gut.“

Malte D./ Knüppler 17; 23.01.2012

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