Eua Senf

"Da könnta doch nicht pennen, ihr Säcke."

22.05.2012, 10:40 Uhr von:  Gastautor

Es ist fünf Uhr morgens. Die Lautsprecher-Durchsage im Zug hat mich soeben geweckt. "In wenigen Minuten erreichen wir die Stadt des deutschen Pokalsiegers" - Träume ich doch noch? Ganze zwei Stunden Schlaf habe ich hinter mir. Und trotz meiner noch recht jungen 16 Jahre bin ich einfach nur fertig. Fertig von den vergangenen 24 Stunden. Moment, dieses Gefühl kenne ich doch. Genau - es ist der 30. Juli, vor gut neun Monaten. So fing alles an. FA-Bus gebucht, Ticket gekauft und ab nach Sandhausen.

Das Spiel war so unspektakulär wie der Gegner, aber als ich morgens um halb vier fix und fertig zu Hause ankam, ließ mich ein Gefühl einfach nicht los: Dieses Jahr holen wir den Pott. Dieses Gefühl begleitete mich fortan über die komplette Saison. Der Elfmeter-Krimi am Rhein und der Last-Minute-Treffer in Fürth bekräftigten es von Spiel zu Spiel. Manchmal spielt das Leben verrückt.

Rückblende: Nachdem Gündogan mit dem besagten Tor in allerletzter in Minute das Finalticket löste, liefen die Berlin-Vorbereitungen auf Hochtouren. Doch schnell musste ich einsehen, dass selbst die verzweigtesten Quellen zu den begehrten Tickets mir keine Chance ließen. Das Olympiastadion musste auf mich, oder besser gesagt, ich musste auf das Olympiastadion verzichten. Umso trauriger, welch plötzlich Borussia-Fans gewordenen Personen aus meinem Bekanntenkreis sich doch mit Karten eindecken konnten. "Hilft alles nix, nach Berlin muss ich trotzdem", dachte ich mir. Hauptsache dem Ballspielverein so nah wie möglich zu sein. Sonderzug gebucht, kurzfristig noch zwei Tickets für mich und meinen Kumpel für die Waldbühne reserviert - sicher ist sicher.

So geht es mit Vorfreude, aber auch mit einer großen Portion Wehmut, am Samstagmorgen nach Berlin. Fünf Uhr morgens, der Wecker klingelt – Berlin Calling. Noch fällt es etwas schwer, sich aufzuraffen. Aber schnell mache ich mir klar, wofür man das ganze macht. Auf geht´s! Die U-Bahn Richtung Hauptbahnhof ist gefüllt mit Gleichgesinnten. Am Hauptbahnhof angekommen, gabel ich meinen Kumpel auf und zusammen machen wir uns direkt auf den Weg zum Bahnsteig, der Zug kommt und fährt auch recht zügig. Alles super. Im Wagon macht man gleich erste Bekanntschaften. Beim Rundgang durch den Zug sieht und hört man immer wieder was von den Final-Tickets. Eigentlich möchte ich diese den Personen auf der Stelle aus der Hand reißen und einfach nur weglaufen – geht aber nicht, leider. Die entspannte Zugfahrt endet um halb eins am Zoologischen Garten. Draußen angekommen bestätigt sich all das, was mir meine Eltern noch vom Pokalfinale ´89 erzählt haben. Alles ist schwarzgelb. Erstmals sehe ich überdimensionale Bananen aus nächster Entfernung. Hier bin ich richtig. So fühlt man sich wohl. Gedächtniskirche, Brandenburger Tor, Potzdamer Platz - es vergehen keine 30 Sekunden, in denen einem keine Borussen über den Weg liefen. Unglaublich!

Eigentlich ist alles perfekt. Das Wetter zeigt sich von seiner guten Seite, die Laune und das Bier auch. So langsam machen mein Kumpel und ich uns auf den Weg Richtung Waldbühne. Es fällt schon schwer, wenn man eine Station nach dem Olympiastadion aussteigen muss und vorher im Zug neben Leuten gestanden hat, die proppevoll und peinlich laut rumgrölen, dass sie jetzt ins Stadion gehen würden. Kann man nix machen. Die Stimmung leidet dann aber doch irgendwie etwas drunter. Angekommen in der Waldbühne, wird sie leider nicht gerade besser. Nervende, schreckliche Musik verbunden mit diesem ganzen „Event-Gehabe" passt einfach nicht in mein Bild von Fußball. Aber in Berlins Kneipen hätte ich vermutlich lange nach einem freien Platz können. So ist das mit dem Public-Viewing. Zumindest macht das beeindruckende Bild der Waldbühne und die Nähe zum Stadion ein Teil wieder gut. Immer wieder versuche ich zu lauschen. Höre ich was vom Stadion, das wirklich nur 200, 300 Meter entfernt ist? Währenddessen füllt sich die Waldbühne immer mehr und mehr.

Die Zeit zum Anpfiff vergeht recht schnell und nachdem man sich zum gefühlt 1909. Mal den Evonik-Werbespot mit der BVB-Mütze anschauen konnte (oder musste?), geht es endlich los. Ehrlich gesagt war bis zu diesem Zeitpunkt bei mir von Anspannung nicht allzu viel zu spüren. Ein Pokalsieg, dachte ich mir, würde einfach nur die Krönung sein. Die Krönung der vergangenen neun Monate. Doch pünktlich zum Anpfiff ist all das vergessen. Wie war das nochmal mit meinem Gefühl? Ach ja, richtig – dieses Mal hol´n wa uns den Pott. Viel Zeit zum Nachdenken habe ich dann auch nicht mehr. Nach Vorarbeit von Gustavo und Kuba haut Kagawa das Ding zum ersten Mal in die Maschen. Eskalation in der Waldbühne, Ausrasten ist angesagt. Das kann doch nicht wahr sein! Bengalos auf den ganzen Rängen verteilt geben ein wahrhaft wunderschönes Bild ab. Mit dem Sonnenuntergang kommt der 1:1-Ausgleich. Kurz vor der Pause geht mein Adrenalin-Spiegel dann in ungeahnte Bereiche. Dieses Gefühl ist unbeschreiblich, mit nichts zu vergleichen. Als ich sehe, wie sich Lewandowskis Schuss ins Tor zum 3:1 senkt, weiß ich vor Glück nicht mehr, wohin mit mir. Einfach nur geil, was gerade abgeht.

Halbzeit! Durchschnaufen ist angesagt. Gewinnen wir wirklich ein fünftes Mal in Serie gegen die Bayern? Nein, noch will ich nicht dran denken. Die machen bestimmt noch den Ausgleich. Doch als das Spiel wieder los geht, gewinne ich nach und nach den Eindruck, dass wir es wirklich packen können. Der Rest ist schnell erzählt. Lewandowski tut gerade viel dafür, in Norbert Dickels Fußstapfen zu treten. Unglaublich, 4:1, 5:2! Es sind jetzt noch fünf Minuten zu spielen. Längst ist es dunkel in der Hauptstadt geworden. Ich schau hinauf zum Himmel. Wolken bedecken Berlins schwarzgelbsten Punkt. Doch da fällt mir etwas auf: Ein langer, breiter Lichtstrahl zieht sich über das gesamte Gelände. Es ist das Loch des Marathontores, durch das die hellen Scheinwerfer strahlen. Selten erlebte ich ein Gefühl, das so im Einklang war mit dem, was ich für den Ballspielverein empfinde – einfach magisch. Und irgendwie zeigt es mir, dass ich doch Teil dieses historischen Ereignisses bin. Auf einmal bin ich ganz nah dran.

Der Schlusspfiff reißt mich aus meiner kleinen (großen) Träumerei. Unfassbar! Pokalsieger! Bei der Pokalübergabe schaue ich wieder rauf zum Himmel. Immer noch zeigt sich dieser lang gezogene Lichtstrahl und ich meine, er wäre sogar etwas schwarzgelber geworden. Auf der Rückfahrt zum „Zoo" fahren wir wieder am Olympiastadion vorbei. Diesmal mischt sich aber noch die Erkenntnis ein, dass ich wirklich nur ganz wenige Meter von der Kurve, vom Spiel, von dieser historischen BVB-Mannschaft entfernt war. Das muntert auf. Angekommen am Zoologischen Garten fällt es schwer, sich noch aufzuraffen. Hier sind alle kaputt. Schnell decken wir uns mit Essen und Trinken ein. So langsam füllt sich der Bahnhof. Noch drei Stunden müssen wir warten, bis der Sonderzug in die schönste Stadt der Welt abfährt. Doch allen frisch gebackenen Pokalsiegern sieht man im Gesicht an, dass sie alle einen langen Tag und ein unglaubliches Spiel hinter sich hatten. Hier ist eher Regeneration als Feiern angesagt. Aber das ist egal.

So vergeht die Zeit im untereinander Austauschen, aber auch im Stillen. Das ganze muss ich erst mal sacken lassen. Dann kommt der Zug, es ist 0:50 Uhr, noch 40 Minuten bis zur Abfahrt. Wir sind die Ersten im Waggon. Über die Zug-Lautsprecher ertönt „Tage wie diese" von den Toten Hosen. Ich schiebe das Fenster runter, mach mir ein Pils auf (ja, das darf ich mit 16) und schaue in die Berliner Nacht. Das Ganze hat etwas ganz Besonderes und werde ich nie vergessen. „An Tagen wie diesen wünscht man sich Unendlichkeit." 01:30 Uhr – wir fahren los. Mein Kumpel und ich entscheiden uns für den Sambawagen. „FC Bayern keine Meisterschaft, und keine Champions-Leauge, und kein Pokal, das war einmal" – herrlich. Um halb 3 ist dann aber auch bei uns Schluss mit der Feierei und wir schließen uns den allgemeinen Trend im Zug an und versuchen irgendwie zu pennen. Immer wieder weckt ein besoffener alter Herr den ganzen Waggon: „Eeeeey, wir sind doch Pokalsiega. Da könnta doch nicht pennen, ihr Säcke." Recht hat er. Und trotzdem, die Augen machen nicht mehr mit.

Ich bin eingeschlafen – bis ich um 5 Uhr durch die besagte Durchsage wieder aufgeweckt werde. Irgendwo zwischen Sitz und Klapptisch auf meiner Jacke. „...Stadt des Pokalsiegers", höre ich. Kein Traum, Realität. Jetzt sind wir da. Ich steige aus, schaue nach rechts. Es ist schon hell und langsam geht die Sonne auf. Ich sehe hinauf auf den U-Turm. Der sieht ja viel stolzer als sonst aus. Wieder so ein Moment voller Nostalgie. Denn jetzt beginne ich zu verstehen, was eigentlich in den letzten 24 Stunden, in den letzten beiden Spielzeiten abgegangen ist. Das ist so ein typischer Moment der Kategorie: „Das erzähle ich mal meinen Enkeln". Denn denen kann ich dann sagen: Ein kleines Stück war ich doch ganz nah dabei, damals 2012 in Berlin – auch ohne Karte.

geschrieben von Leon

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