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Karpaty Lwiw - Die große Unbekannte

15.09.2010, 18:12 Uhr von:  Redaktion

Lemberg hat eine Altstadt mit StilSelten waren die Meinungen so einhellig, wenn man mit dem Ergebnis einer Auslosung konfrontiert wurde: Eine reizvolle Gruppe haben wir da erwischt. Sportlich ambitioniert, aber machbar, und dazu drei interessante Auswärtsfahrten: Zum Gruppenfavoriten FC Sevilla ins Estadio Ramón Sánchez Pizjuán geht es Mitte Dezember, wenn der milde andalusische Winter eine angenehme Alternative zur verregneten deutschen Vorweihnachtszeit darstellt; Paris ist immer eine Reise wert, selbst Anfang November; und zum Start in die Gruppenphase wartet mit Karpaty Lwiw ein doch ziemlich attraktives Los auf uns, speziell wenn man es mal mit möglichen Alternativen aus dem ehemaligen Ostblock vergleicht.

Das liegt insbesondere an der Stadt Lemberg (so der deutsche Name des heute ukrainischen Lwiw) selbst, deren wechselvolle Geschichte ein eindrucksvolles Zeugnis von den historischen Verwerfungen im Osten Europas abliefert: Gegründet 1256 als Burg eines Fürsten der Rus, des alten ostslawischen Stammes, gehörte Lemberg ab 1340 zu Polen (bzw. Paläste und Kirchen in Lembergspäter zu Polen-Litauen) und stieg in dieser Zeit zu einer der wichtigsten Städte Osteuropas auf. Dabei wurde die Handelsstadt zwischen Mitteleuropa und dem Schwarzen Meer zu einem Schmelztiegel verschiedenster Ethnien und Religionsgruppen: Nicht nur siedelten sich polnische und ukrainische Christen an, auch nennenswerte Anteile deutscher und armenischer Familien lebten in der Stadt, die im Laufe der Jahrhunderte zu einem Zentrum jüdischen Lebens in Osteuropa werden sollte (im 19. und 20. Jahrhundert war etwa ein Drittel der Bevölkerung Lembergs jüdischen Glaubens). Nach der ersten polnischen Teilung 1772 fiel Lemberg als Hauptstadt des Königreichs von Galizien und Lodomerien an Österreich-Ungarn, blieb aber im Kern eine polnische Stadt in einer ukrainisch geprägten Umgebung. Ab 1918 war die Stadt dann wieder polnisch, ehe sie nach der Eroberung durch die Wehrmacht 1941 kurzzeitig unter deutschem Kommando stand. In der Folge ließen viele Juden, aber auch ein großer Teil der Lemberger Intelligenzija ihr Leben. Gemäß dem Potsdamer Abkommen zur polnischen Westverschiebung fiel die Stadt nach dem zweiten Weltkrieg dann an die Sowjetunion, wobei viele polnische Einwohner Lembergs zwangsumgesiedelt und durch Ukrainer "ersetzt" wurden. Noch heute sieht man der Stadt die verschiedenen Einflüsse in ihrer Vergangenheit an: Für die Ukraine einzigartig besitzt Lembergs Altstadt den Status eines UNESCO-Weltkulturerbes.

Lemberg ist Spielort der EURO 2012Seit dem Ende der UdSSR 1991 ist Lemberg erstmals in seiner Geschichte ukrainisch. In diesem zwischen dem europäisch geprägten Westen und einem an Russland orientierten Osten tief gespaltenen Land nimmt die nur 80 Kilometer von der polnischen Grenze entfernte Stadt die Rolle als Zentrum der Westukraine ein, von Separatisten als Hauptstadt eines neuen galizischen Staates auserkoren. Nicht nur aufgrund dieser geographischen Nähe zu Polen ist Lemberg als Spielort der kommenden Europameisterschaft vorgesehen, auch wenn die Arbeiten am neuen Lemberger Stadion noch lange nicht fertiggestellt sind und daher nicht klar ist, ob dort wirklich EM-Partien stattfinden können. Am Donnerstag wird auf jeden Fall im alten Stadion Ukrajina gespielt.

Weniger berühmt als die Stadt ist ihr Fußballverein. Karpaty Lwiw, unser Gegner am Donnerstag, spielt in diesem Jahr die beste europäische Saison seiner Vereingeschichte: Als Fünfter der vergangenen Saison war Karpaty für die zweite Qualifikationsrunde zur Europa League qualifiziert und konnte dabei erstmals bei vier Teilnahmen an europäischen Clubwettbewerben überhaupt eine Runde überstehen. Wenig überraschend waren die Siege Karpatys gegen KR Reykjavik aus Island und den FC Zestafoni aus Georgien, ehe in der letzten Runde mit Galatasary ein echter Hochkaräter auf die Ukrainer wartete. Dennoch setzte sich Karpaty durch: Nach einem 2:2 in Istanbul ging Galatasaray im denkwürdigen Rückspiel in der 90. Minute mit 1:0 in Führung, musste aber noch den Ausgleich zum 1:1 durch Fedetsky in der Nachspielzeit hinnehmen. In der Liga liegt die Mannschaft aus Lemberg nach neun Spieltagen aktuell auf Rang vier, der zur erneuten Qualifikation zur Europa League berechtigen würde, muss jedoch zum Saisonende einen Abzug von neun Punkten hinnehmen, der aus einer Spielabsprache aus dem Jahr 2008 resultiert.

Nach Agdam soll nun Lviv dran glaubenTrotz dieser relativ erfolgreichen jüngeren Vergangenheit besteht die Mannschaft von Karpaty Lwiw aus No-names, die wohl höchstens Experten des ukrainischen Fußballs ein Begriff sein dürften. Auffällig im Vergleich zu den großen Konkurrenten aus Kiew und Donezk ist allenfalls, dass die Mannschaft zu allergrößten Teilen aus Ukrainern besteht und nur wenige ausländische Akteure (und dann zumeist aus Russland) im Kader stehen. Aktuelle Nationalspieler sind neben Fedetsky, der ebenso wie Stürmer Kuznetsov am Donnerstag übrigens gesperrt ist - beide wurden von Schiedsrichter Kinhöfer vom Platz gestellt, Fedetsky dabei mit Gelb-Rot nach seinem Torjubel -, noch die beiden Mittelfeldspieler Kozhanov und Khudobyak, ansonsten ist noch Stürmer Zenjov für Estland international im Einsatz. Die Aufstellung der Borussia dürfte dagegen deutlich einfacher vorherzusagen sein: So sich nicht kurzfristig noch Spieler verletzten sollten, ist bis auf eine Ausnahme mit der Startelf zu rechnen, die am Samstag einen wichtigen 2:0-Erfolg gegen den VfL Wolfsburg verbuchen konnte. Einziges Fragezeichen dürfte der Einsatz des erneut nicht allzu überzeugenden Kuba sein, für den Mario Götze (wie bereits an den ersten beiden Spieltagen) oder auch Neuzugang Lukasz Piszczek in die Startelf rücken könnten.

Die voraussichtlichen Aufstellungen:

Karpaty Lwiw: Tlumak - Avelar, Milosevic, Petrivsky, Tubic - Golodyuk, Goodwin - Khudobyak, Kozhanov, Tkachuk - Zenjov

Borussia Dortmund: Weidenfeller - Schmelzer, Hummels, Subotic, Owomoyela - Kehl, Sahin - Großkreutz, Kagawa, Götze (Kuba) - Barrios

Schiedsrichter: Claudio Circhetta (Schweiz)

Scherben, 15.09.10

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