Spielbericht Jugend

Zwischen WM-Stimmung und Derbyfeeling

14.08.2007, 00:00 Uhr von:  SSC
Zwischen WM-Stimmung und Derbyfeeling

Gerade mal etwas mehr als ein Jahr ist es her, dass Deutschland die Fußball-WM austragen durfte. Vier Wochen lang herrschte grenzenlose Euphorie, bundesweite Begeisterung und eine extrem ausgelassene Stimmung - selbst dort, wo man sich sonst kein bisschen für den angeblichen Proletensport Fußball interessierte. Es war ja WM, die Presse berichtete sieben Tage die Woche rund um die Uhr - wer diesem Trubel entfliehen konnte, musste wirklich ein verdammt einsamer Mensch gewesen sein.

Kaum anders sah es aus, als Borussia Dortmund vor drei Monaten im Alleingang die Meisterschaft der Gazprom-Werkself aus Gelsenkirchen verhindert hatte – bundesweit schwappte die Begeisterung über, dass es „die“ gottseidank wieder mal verdummt hatten. Wiederum waren die europäischen Sportgazetten voll bis zum Rand, in Gelsenkirchen weint man heute noch über den Hohn und Spott der halben Fußballwelt. Die beiden größten Unterschiede zur WM waren auch schnell ausgemacht: einerseits hatte diesmal die „richtige“ Mannschaft den Titel gewonnen, andererseits waren die Emotionen aus dem Moment heraus entstanden und nicht monatelang medial gesteuert worden.

Nun steht dank DFL-Spielplan die Revanche vor der Tür – ein kleines Derby zum Auftakt, der dickste aller denkbaren Brocken gleich hinterher. Anlass genug, um über den Tellerrand zu klettern und einen Blick in andere Länder zu werfen, in denen ebenfalls bis zur Extase gegen das runde Leder getreten wird. Genauer gesagt: Unternehmen wir doch einen Ausflug nach Dänemark und Schweden, ganz konkret nach Kopenhagen und Malmö.

Vom 29.7. bis 4.8. fand in der dänischen Hauptstadt die fünfte Fußball-WM der Obdachlosen statt – 500 Menschen aus 48 Ländern traten an, um nach Straßenfußballregeln einen würdigen Weltmeister zu ermitteln. Qualifikationsrunden oder langwierige Duelle im Vorfeld gab es keine, TV-Übertragungen und Liveticker wurden für niemanden eingerichtet. Rein zufällig landeten wir bei unserem skandinavischen Kurzurlaub nach einem großen Festival im Norden Deutschlands im „Mannschaftshotel“ der Sportler, was wohl daran gelegen haben mag, dass es die mit weitem Abstand billigste (und dennoch äußerst bequeme) Unterkunft am Ort gewesen sein dürfte.

Obwohl sich unter den Medienvertretern beinahe niemand für die Veranstaltung interessierte, herrschte große Begeisterung unter den Teilnehmern – für viele von ihnen war es der erste Urlaub überhaupt im Leben, besonders die afrikanischen und asiatischen Vertreter schienen sich in Kopenhagen pudelwohl zu fühlen. Zwei mal sieben Minuten dauerten die Begegnungen, die nicht etwa in großen Fußballstadien oder auf Sportplätzen stattfanden, sondern ausnahmslos auf öffentlichen Plätzen der dänischen Metropole – hierfür war eigens der Rathausplatz geräumt und in ein großes Fußballfeld verwandelt worden.

„Obdachlose Menschen sollen wieder in die Gesellschaft integriert werden und über den Fußball einen Ausstieg aus Drogen und Kriminalität schaffen“, erklärte der Veranstalter Mel Young vor Ort den Sinn seiner Obdachlosen-WM. Stolz verwies er darauf, dass 300 der 350 Teilnehmer des Vorjahres zwischenzeitlich eine Arbeitsstelle sowie Wohnung gefunden hätten und nun ein halbwegs geregeltes Leben führen könnten – diese Zahlen beeindruckten auch den dänischen Kronprinzen Frederik, der es sich nicht nehmen ließ, den frisch gebackenen Weltmeistern persönlich zu gratulieren: Schottland bezwang Polen mit 9:3 und durfte sich über den ersten Triumph bei einer Obdachlosen-WM freuen.

Da sich jedoch leider nicht alle Teilnehmer darüber im Klaren waren, wie viel Vertrauen die Behörden und Veranstalter mit ihrer Einladung nach Kopenhagen verbunden hatten, bleibt erst mal fraglich, ob die Obdachlosen-WM auch 2008 in dieser Art stattfinden kann: während der Spiele verschwanden 14 afrikanische und ein afghanischer Teilnehmer, die die laschen Kontrollen und vielen Freiheiten zur illegalen Einreise in die EU ausnutzten. Es wäre wirklich schade, wenn die Teilnehmer zukünftig pausenlos überwacht werden müssten.

Nachdem wir in Kopenhagen so ziemlich alles gesehen hatten, was man als Kurzurlaubstourist mal gesehen haben sollte, machten wir uns kurzerhand auf den Weg nach Malmö. Eine hübsche alte Innenstadt trifft dort auf hochmoderne Bauwerke in den Vorstädten, die am schnellsten wachsende Stadt Skandinaviens hat von der Anbindung an Dänemark erheblich profitiert. In der Tat ist es heute sehr bequem möglich, die rund 20 km Entfernung zu überwinden – die seit 2000 bestehende Öresundverbindung macht es möglich.

Ein weiterer Tag Sightseeing und Stadt erkunden gab uns den Rest – doch kaum hatten wir den Weg zum Auto angetreten, wartete die nächste Überraschung auf uns. Die halbe Innenstadt war plötzlich gesperrt, zwei Helikopter kreisten über der Stadt und einer über den Vororten. Wohin man auch sah, füllten sich die Straßen innerhalb weniger Sekunden mit Polizisten. Jede Stichstraße wurde von mindestens zwei Mannschaftsbussen versperrt, zahlreiche Polizisten zu Pferd säumten unseren Weg. Während wir noch mitten auf der Straße standen und uns ein Bild von der Situation machten, standen wir plötzlich in einem lautstarken Mob vielleicht 3000 rot gekleideter, auffällig junger Menschen.

Sofort schoss nur noch ein Gedanke in den Kopf: „Wo kriegen wir auf die Schnelle Karten her?“ Die Lautstärke der Schlachtgesänge, die schiere Masse der Fans und das Polizeiaufgebot ließen nur einen Schluss zu – es muss ein verdammt wichtiges Spiel stattfinden. Wir bewegten uns weiter in Richtung Marktplatz, um in aller Ruhe die nötigen Planänderungen zu besprechen. Und wieder landeten wir in einem Polizeikessel, diesmal bei den Fans der Heimmannschaft – die klärten uns auf, dass am Abend „das Derby aller Derbys“ stattfinden solle, Malmö FF gegen Helsingborg IF.

Obwohl die Stimmung zwischen den beiden Fanlagern sehr gereizt schien und – ich behaupte mal – haufenweise Beleidigungen ausgetauscht wurden, blieb die Polizei auffallend entspannt. Knüppel, Helm und Pfefferspray waren nicht mal in der Ausrüstung enthalten, zwischen Fans und Beamten blieb ausreichend viel Platz zur quasi-freien Entfaltung. Beinahe alle Sicherheitskräfte hatten ein freundliches Lächeln auf den Lippen, unterhielten sich lässig mit Passanten und Fans und bemühten sich nach Leibeskräften darum, zu keiner Zeit ein Gefühl der Gefangenheit entstehen zu lassen. Es war beeindruckend, wie unaufgeregt und souverän die Polizisten die Situation im Griff hatten, ohne aber allzu große Angriffsflächen zu bieten – ein Blick in die Bundesliga zeigt, dass dieses Verhalten nicht unbedingt selbstverständlich ist.

Am Stadion angekommen, erkundigten wir uns sofort nach Karten an der Abendkasse. „Schlechte Nachrichten: wir haben nur noch Stehplätze, Sitzplätze sind alle ausverkauft“, wurde uns vom freundlichen Verkäufer mitgeteilt – unsere plötzlich aufkeimende Begeisterung konnte der gute Mann wohl kaum verstehen. Mit breitem Grinsen im Gesicht marschierten wir in Richtung des Stehplatzbereiches, vor dem der Schwarzhandel mit Sitzplatztickets so richtig blühte. Etwas erstaunt suchten wir uns ein paar gute Plätze aus und ließen uns von den Fans erklären, was uns am Abend alles bevorstehen würde. Der Infoflyer der „Supras Malmö“ ließ Großes erahnen, doch mehr als ein paar Wortfetzen konnten wir beim besten Willen nicht entziffern.

„Eine Choreografie mit Papptafeln, Fahnen, Kunststoffbahnen, Spruchbändern, Tapeten und massenhaft Tifo-Material“ sollte es sein, wie uns in einem etwas eigenwilligen Sprachmix erklärt wurde. Dargestellt werden sollte das Portrait dreier Brüder, die vor 70 Jahren über 600 Spiele für Malmö absolviert hatten und als „MFF Familie“ in die schwedische Fußballgeschichte eingegangen seien. „So wichtige Spieler können nur im Spiel der Spiele gegen die Bauern aus Helsingborg geehrt werden“, drehte der junge Schwede so richtig auf.

Ein bisschen Smalltalk hier und da, dann konnte das Spiel endlich beginnen. Das kleine bisschen Werbung war völlig an uns vorbeigegangen, bis auf wenige moderate Lautsprecherdurchsagen war sie auch beinahe nicht existent. Das Spiel nahm schnell an Fahrt auf, von beiden Mannschaften gab es extrem aggressive Zweikämpfe zu sehen – selbst als völlig uninformierter Ausländer konnte man spüren, worum es in diesem Spiel ging. Die Zuschauer wurden mitgerissen, Wechselgesänge zwischen Haupttribüne und Gegengerade angestimmt und die eigene Mannschaft immer weiter nach vorne gepeitscht.

Wunderschöne Spielszenen gab es zuhauf, Torchancen beinahe im Minutentakt. Dem Gegner sollte nichts geschenkt werden, ein Lattenknaller nach Freistoß Helsingborgs und Hackenverlängerung eines Malmöer Verteidigers führte schon in der Anfangsphase des Spiels zu Herzrasen auf der Tribüne: „Dieser Scheißclub darf nicht gewinnen, wir hassen diese gottverdammten Bastarde“ – irgendwie klang das dann doch alles altbekannt. Die besondere Tabellensituation prägte das Spiel entscheidend mit: der Rekordmeister Malmö blieb trotz horrender Investitionen weit hinter den Erwartungen zurück, Helsingborg hingegen spielte ebenfalls eine durchwachsene Saison und stand in der Tabelle direkt hinter Malmö.

Auf dem Rasen ging es hin und her, wie Furien rannten die Spieler über den Platz und kannten keine Gnade mit dem Gegner. Harte Fouls interessierten niemanden, brutale Fouls brachten bisweilen einen Freistoß oder gar eine Verwarnung ein – in Deutschland hätten zehn Spieler den Halbzeitpfiff schon nicht mehr erlebt, hier forderten die Fans noch viel mehr Einsatz von ihren Teams. Nach gut einer halben Stunde ging die Heimmannschaft nach einer wunderschönen und schnellen Kombination verdient in Führung, die Gäste steckten jedoch nicht auf. Sie hatten immer wieder starke Konterszenen und den Malmöer Schlussmann mehrfach hart auf die Probe gestellt.

Hendrik Larsson, der Superstar Helsingborgs, war bis zu diesem Zeitpunkt äußerst blass geblieben. Stinksauer über seine schlechte Leistung und den Rückstand im Derby packte er kurz nach dem Tor eine Beinschere aus, die es gewaltig in sich hatte. Das tat beim Hinsehen schon richtig weh, die über die Videoleinwand flimmernde Wiederholung tat ihr Übriges dazu: der Schiedsrichter zögerte keine Sekunde und zeigte die gelbe (!) Karte. Das versteht man dann also tatsächlich unter kampfbetontem Fußball...

In der Halbzeitpause sahen die knapp 23.000 Zuschauer dann erstmals ein bisschen Werbung – auf dem Platz fand das übliche Sponsorenspiel statt, auf der Tartanbahn aber das eigentliche Highlight: Ein Spieler Malmös durfte es sich auf einem Bett bequem machen und wurde zweimal quer durchs Stadion gezogen. Wohl dem, der einen Möbelhändler als Sponsor hat...

Direkt nach dem Wiederanpfiff nahm das Spiel die gewohnte Fahrt auf, das Tempo blieb bis zum Abpfiff auf allerhöchstem Niveau. Aggressive Spielführung, Riesenchancen auf beiden Seiten, wunderschöne spielöffnende Pässe – es entwickelte sich ein Spiel, das einen nur noch mit der Zunge schnalzen ließ. Dass auch schwedische Derbys ihre eigenen Gesetze haben, zeigte sich dann nach einer Viertelstunde – ausgerechnet die schlechteste aller Chancen (wenn sie denn überhaupt eine war) bescherte Helsingborg den Ausgleichstreffer. Bei den Gästen brachen nun alle Dämme, auf Seite Malmös herrschte großes Entsetzen.

Beide Mannschaften wollten das Spiel nun unbedingt gewinnen: es ging um die Ehre. Pfostenschüsse, Lattentreffer, brutale Fouls – der Rasen brannte förmlich. Alle Chancen wurden genutzt, dem Gegner einen empfindlichen Schlag zu versetzen, eine exemplarische Szene bot der Torwart Malmös. Er rannte aus seinem Strafraum und säbelte den anrennenden Larsson mit beiden gestreckten Beinen um, die Sanitäter griffen schon einmal vorsorglich zur Trage. Den Schiedsrichter jedoch kümmerte es nicht weiter, das Spiel wurde umgehend wieder angepfiffen und dem Torwart ein Freistoß zugesprochen – der Assistent hatte Abseits angezeigt...

Alleine zwischen der 80. und fünften Minute der Nachspielzeit gab es dann noch Aufreger, die normalerweise für ein ganzes Spiel gereicht hätten. Ein nicht gegebener Handelfmeter, fünf hundertprozentige Torchancen auf beiden (!) Seiten, ein Herzschlagfinale bis zum endgültigen Abpfiff. Ein wahnsinniges Spiel, das so richtig Lust auf mehr machte und jeden Menschen im Stadion spüren ließ, dass jeder einzelne Beteiligte die Bedeutung der Partie verstanden hatte.

Mit dem Abpfiff war leider auch der Urlaub schon wieder zuende, auch wenn wir gerne noch länger geblieben wären. Nur eines ist ganz sicher: das war bestimmt nicht der letzte Ausflug nach Skandinavien!


Für diejenigen, die sich das deutsche U21-Spiel im September in Malmö anschauen möchten, noch ein paar Reisetipps:

Wer seine Euros nicht in dänische oder schwedische Kronen tauschen möchte, sollte am besten mit Kreditkarte zahlen. Die wird fast überall anerkannt (selbst bei 1-Euro-Beträgen im Supermarkt), bessere Wechselkurse gibt es nicht. Wer mit Euro zahlen möchte, kommt teilweise billiger weg als mit Kronen – umrechnen lohnt sich also. Aber aufpassen: als Wechselgeld gibt es nur Kronen.

Wer sich in der Tourist Info am Hauptbahnhof in Malmö oder auf dem Autorastplatz direkt nach der Öresundbrücke eine „Malmökarte“ kauft (ca. 15-20 Euro), bekommt Ermäßigungen auf zahlreiche Sehenswürdigkeiten in Malmö. Alleine die inbegriffene und lohnenswerte Stadtrundfahrt reißt es schon wieder raus, dazu kommen noch zehn Prozent Rabatt auf die Brückenmaut Richtung Dänemark (nach dem „I-Ticket“ fragen und direkt mitkaufen). Außerdem können Inhaber der Malmökarte kostenlos auf einem der wirklich vielen öffentlichen Parkplätze parken, unter anderem direkt in Stadionnähe.

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