Eua Senf

"Ajax ist zum Putzen da..." - Ein Rückblick auf wirklich finstere Zeit

29.10.2006, 00:00 Uhr von:  Gastautor

Menscheskinnas... Wird Zeit, dattwa ma alle wieda bei Besinnung komm. Um gemeinschaftlich der Mutter aller BVB-Lieder huldigen zu können: "Wir halten treu und fest...". Meine Erfahrungen lassen mich mit der jetzigen "Krise" aber auch ein wenig gelassener umgehen: Elfeinhalb war ich, als ich mein 1. BVB- Spiel im Stadion sah: 1. Spieltag Regionalliga West, Spielzeit 72/73, Gegner: GE! Horst... Emscher... Seither ging dat schwatzgelbe Schiff n paar mal beinahe unter, sportlich und/oder wirtschaftlich. Sowat härtet ab..

Dieses 1. Spiel jedenfalls, das ich mit zwei Freunden aus "Sandkasten-Zeiten" besuchte, endete mit einem enttäuschenden 2:2 des selbsternannten Sofort-Wiederaufstiegs-Kandidaten. Doch auch wenn die Stimmung nicht annähernd mit der heutigen vergleichbar war: der Virus hatte mich gepackt! Ich versäumte hernach kein Heimspiel. Selbst als der BVB vier Jahre(!) zweitklassig blieb und lange Zeit vor sich hindümpelte. Den Treuesten der Treuen damals gebührt in der Historie eigentlich nachträglicher Dank, Verein und Tradition mit über Wasser gehalten zu haben...

Gibt bestimmt genug Fans, die keine Vorstellung von der letzten Ära der "Roten Erde" nach dem BL-Abstieg 71/72 haben. Zu "normalen" Spielen wie gegen Lüner SV oder Oer-Erkenschwick kamen höchstens 3- 4000. Es gab m. E. n. nur einmal ein ausverkauftes Stadion in dieser Zeit. RWE mit Ente Lippens war zu Gast. Doch der zeigte unter Flutlicht - trotz früher BVB-Führung - mit seinem Entscheidungs-Treffer, wer der bessere Aufstiegskandidat war...

Dass ich dieses Spitzen-Spiel überhaupt sah, verdankte ich einem grossherzigen Menschen. Gab keine Jugendkarten mehr, es schneite und ich war ziemlich verzweifelt. Erwachsenenkarten bzw. kurz darauf Schwarzhandel - unbezahlbar. Aus dem Schneegestöber tauchte plötzlich eine männliche Person auf. Diese murmelte eine Begründung für ein überzähliges Ticket, das sie mir in die Hand drückte, um wieder im Schnee-Gestöber zu verschwinden. Erst war ich perplex, dann hochgradig erfreut: ich durfte auf der Haupttribüne Platz nehmen! Gibt es solche Menschen (ohne böse Hintergedanken!) heute noch?...

Gewöhnlich wurde die seinerzeitige Holztribüne gegenüber der "Haupt" bei normalem Besucherschnitt kurz nach Spielbeginn geöffnet. Dorthin zog es dann die Fans, die - noch BL-erfahren und durch den Abstieg leidgeprüft - für Stimmung/Anfeuerung sorgten. Dazu wurde die Tribünen-Akkustik bzw. deren Material genutzt. Ich gesellte mich schüchtern hinzu, lernte die damals gängigen Lieder ("Ajax ist zum Putzen da"...). Und schwang die selbstgebastelte Fahne (na juht, Mutter nähte meine gefärbten Bettlaken zusammen...).

Ansonsten kann ich mich noch an "Acker" erinnern. Ein kräftig gebauter "Kerl" mit einem ebensolchen, stets heiser klingenden Organ. Er gehörte zu den Vorsängern der Hundertschaften, stürmte aber auch als erster voran, wenn ein gegnerischer Fan-Pulk den "Sicherheits-Abstand" nicht einhielt. Seine doppelläufige Riesen-Tröte dabei über dem Kopf schwingend...

Ich erwähne ihn deswegen, weil ich mit ihm eines von zwei gravierenden BVB-Wendepunkten aus jener Zeit verbinde. Es steht im Zusammenhang mit einem Erstrunden-Pokalspiel. Gegner: Hannover 96(!), Erstligist. Beim BVB war die Hoffnung auf einen Wiederaufstieg in dieser Saison 73/74 kräftig geschürt worden. Während hinter der "Haupt" schon das Gerüst für Borussias tatsächliche Zukunft in den Himmel wuchs, gab diese Begegnung die allgemeine Erwartungshaltung wieder: bereits auf Augenhöhe mit dem BL-Durchschnitt zu sein.

Mit dem 0:4 war der BVB noch gut bedient. Auf dem Heimweg schaute ich mir vor einem TV-Geschäft an der Reinoldikirche die Sportschau an, als plötzlich Acker neben mir stand. Vorsichtig hochschauend warf ich einen Blick auf sein Gesicht - und hoffte, dass er keene kleenen Belngels frisst. "Ich gehe da nie wieder hin!" Sprachs und drückte mir seine zermackte Tröte in die Hand. Bis sich seine Spur für mich nach dem Umzug ins Westfalenstadion verlor, hatte er sie niemals zurückgefordert...

Um die Sache auf den Punkt zu bringen: als ich 1989 Teil jenes schwatzgelben Lindwurmes war, der sich Richtung Berlin schlängelte, befand sich in unserem Transporter neben den obligatorischen Erfrischungsgetränken sowie ner Schüssel Frikadellen auch meine Tröte. Nach dem Pokalsieg tönte ihr hochgradigst greller Klang durch das sommernächtliche Kreuzberg. Bis mir etwas bewusst wurde: in dieser Tröten-Geschichte hat sich der Kreis geschlossen! Vom Erstrundenaus hin zum totalen Triumph. Ich verschenkte sie an einen Türken, der mich zum Pokalsieg beglückwunschte. Er schaute so überrascht-stolz drein wie ich wohl anno 73...

Den anderen Wendepunkt markierte das Aufstiegsspiel 1976 gegen den 1. FC Nürnberg(!). Schöne Grüsse an den Pfälzer Lothar Huber in dem Zusammenhang (der sich hoffentlich immer noch um das Grün in seiner neuen Heimat kümmert). Er löste mit seinem Tor endgültig das Ticket zur 1. Liga - und erlöste uns Zuschauer, die wir wie Ölsardinen dicht an dicht gedrängt im Westfalenstadion standen (etwas später wurde die Besucher-Höchstzahl sicherheitsmäßig reduziert).

Doch dieser Wendepunkt war wohl nicht zuletzt dem Stadionumzug geschuldet. Nach und nach zog die Einzigartigkeit dieses englischen Arenen nachempfundenen Stadions immer mehr neue Anhänger an. In den gut zwei Jahren bis zum Aufstieg wurde der BVB somit nicht nur solventer. Das Publikum, vor allem auf der Süd, formte sich ausserdem zu einer Einheit, die stimmungsmässig so manchen Gegner mehr als nur beeindruckte. Wenn es gegen Mannschaften wie Barmbeck-Uhlenhorst ging, zeigte sich am deutlichsten, dass die Zahl der "treuen Fans" gehörig angestiegen war.

Ich wage zu behaupten, dass der BVB ansonsten noch heute gegen Mannschaften wie RW Oberhausen/Essen die Klinge kreuzen würde. Traditionsvereine, deren Untergang mit dem Zechensterben einherging, unter dem auch Dortmund zu leiden hatte. Vielleicht ist es ein weiteres gutes Omen, dass der BVB heuer wieder über Sponsorengeld aus der Kohlen-Industrie verfügen kann...

Als ich in den langen Jahren vor dem Aufstieg stolz mit wehender Fahne die Holzwickeder Strasse (Neuasseln) runter Richtung Straba marschierte, musste ich stets manchen Stimmungs-Dämpfer hin nehmen: entgegen kommende Autofahrer schüttelten den Kopf - oder zeigten mir kleenem Tropf gar den Wiedehopf (schon juht, ick hör uff mittm reimen...). Heute denke ich manchmal: "Das sind bestimmt jene Leute, die in der Ära der grossen Erfolge zum BVB fanden - und seither die "besten" Plätze besetzen.

Herr Watzke hat das mögliche Fernbleiben dieses Klientels, welches bei ausbleibenderm Glanz und Gloria schnell verschnupft reagiert, leider in seine Kalkulationen eingebunden. Ein Meierscher Akt, der seine Nervosität in jüngster Zeit erklären könnte. Der sonst drohende Finanz-Kollaps dürfte die sportliche Leitung zusätzlich unter gehörigen Erfolgs-Druck gesetzt - und könnte die jetzige Situation mit herauf beschwört haben. Dabei hätte ein Blick auf die blau-weissen Nachbarn gereicht, wo die alte Fussball-Weisheit versinnbildlicht wird: Erfolg (der den Zuschauer-Schnitt auf einkalkulierter Höhe hält) kannst du nicht erkaufen. Vielleicht mit eins, zwei "Überfliegern". Aber die können sich nicht mal mehr die Roten aus Vor-Österreich leisten...

Das letzte Pokalspiel offenbarte die treuesten Fans, auf die der BVB zählen kann. Und die hat sich seit den (wirklich!) extrem finstersten Zeiten in der Zweitklassigkeit immerhin verzehnfacht. Sie bilden das Stamm-Kapital, welches Herr Watzke in seine Kalkulationen hätte einbauen sollen. Denn mit einem 60 000der-Schnitt rechnend die Spendierhose für "Stars" (zumindest von der Summe her) zu öffnen, die zu sehen für manchen Stadiongänger auf teurem Sitz die Haupt-Motivation darstellt, engt den sporttechnischen Spielraum arg ein.

Zumal diese 60 000er-Rechnung mit dem Erreichen internationaler Wettbewerbe verbunden ist. Nicht mal der Meisterschafts-gestählte Sammer traute sich unter ähnlichen Bedingungen, schwächelndes, horrendes "Human-Kapital" (sorry, aber trifft wohl die Sache) auf die Bank zu setzen. Denn wäre dann mit hungrigem Nachwuchs keine Besserung eingetreten - uiuiui. Hitzfeld war diesbezüglich der Einzige, der sich Experimente zutraute. Zum Glück nachhaltig erfolgreiche...

Mit den Neueinkäufen wurde/hat sich BvM also sportlich unter Druck gesetzt/setzen lassen. Hätte er müssen? Die Gründe für den nunmehr dringenden Beibehalt des jetzigen Besucher-Schnitts sind bekannt. Der internationale Aspekt im finanziellen Sanierungsfall BVB ist ebenfalls nachvollziehbar. Aber die Neuzugänge drängten ihm auch das Spielsystem 4-4-2 auf. In Nürnberg nun hatte er den Mut zu experimentellen Umstellungen. Spät, aber wohl nicht zu spät in der Saisonphase. Hoffentlich setzt BvM auch fürderhin auf ein flexibleres Spiel(er)-System...

Was seinen ebenfalls kritisch betrachteten Charakter betrifft: Jeder Mensch hat seine Marotten. Ich kann mich an einen Otto Knefler (Gott habe ihn selig!) aus den frühen 70ern erinnern. Fehlte dem Sportleiter beim Training die nötige Ernsthaftigkeit seiner Untergebenen (was sehr schnell passieren konnte), machte er die Spieler auf dem Feld(!) dermaßen zur Schnecke, wie man es sonst nur auf einem Kasernenhof erleben dürfte. Selbst ich bin - als Ballholer für Torwart Horst Bertram (Gruß auch an dieser Stelle) - zusammengezuckt, als Knefler aus scheinbar heiterem Himmel zu brüllen begann...

Die Bude in der 87. zu machen, ist für mich ein Indiz, dass die heutige Mannschaft wieder an sich und Erfolge glaubt. Vielleicht sollte der BVB einen Psychologen als neutralen Ansprechpartner engagieren. Menschliche Disparitäten mit dem (jeweiligen) Trainer etwa könnten auf ganz anderer Basis gelöst werden. Zudem: Intern!

Wie gesagt, es gab viel, viel finsterere BVB-Zeiten als jetze. Daher stimme ich frohgemut an: "Aber eins, aber eins, das bleibt bestehn..."

Geschrieben von Jürgen C. Minten

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