Im Gespräch mit...

"Aufrechten Ganges durch die Zeit des Nationalsozialismus" - Ein Interview mit Gerd Kolbe

27.06.2002, 00:00 Uhr von:  BoKa
"Aufrechten Ganges durch die Zeit des Nationalsozialismus" - Ein Interview mit Gerd Kolbe

Als erster namhafter Fußballklub in Deutschland ließ Borussia Dortmund seine Geschichte lückenlos untersuchen und die nationalsozialistische Zeit im Fokus des Vereinslebens reflektiert. Das nun vorliegende Buch des BVB-Archivars und Stadtpressesprechers Gerd Kolbe schildert eindringlich den Alltag im NS-Regime, die Repressalien ebenso wie die Solidarität der "Vereinsfamilie". Die Ergebnisse, die bereits in Form einer Studie vor geraumer Zeit der Öffentlichkeit erstmals zugänglich gemacht wurden, erfuhren neben bundesweiter, auch Resonanz im Ausland. Dieses gewaltige Medieninteresse hat selbst den Autor überrascht. Die erste Auflage ist mittlerweile total vergriffen und muss inzwischen nachgedruckt werden. Vor allem ist das Buch zu einem "Medienhit" avanciert. Es wurde in Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehbeiträgen ausführlich gewürdigt. Und das nicht nur in Deutschland - auch in Spanien, Frankreich und Italien fand die Studie publizistische Resonanz

Die Kollegen von der "WAZ" schrieben: "Ausführliche Interviews mit Zeitzeugen jener finsteren Jahre gewähren dem Leser einen anschaulichen Blick in das Vereinsleben des aufstrebenden Klubs, der trotz Gleichschaltung darauf verzichtete, den berüchtigten Arier-Paragraphen in die Satzung aufzunehmen." Das 190 Seiten starke Buch , "Der BVB in der NS-Zeit" wird schon als neuer Meilenstein der Sportgeschichtsschreibung bezeichnet. Mit diesen Worten lobt u.a. die "Rheinische Post" das Buch von Gerd Kolbe, das nun auch von der schwatzgelb.de Redaktion akribisch studiert wurde. Außerdem ließen wir den Autor ausführlich in der Vergangenheit schweifen?

schwatzgelb.de: Herr Kolbe, wie kommt man eigentlich auf die Idee, den BVB in seinem ganzen Stammbaum geschichtlich zu durchleuchten?

Gerd Kolbe: Borussia hat ja bekanntlich zur Saison 2000/2001 zum Start gegen Rostock eine Aktion im Westfalenstadion durchgeführt. Eine Trikotaktion und auch Banneraktion: eine Aktion "Fremde sind Freunde". Das knüpfte ein wenig an eine Kampagne an, die schon mal in den 90´er Jahren auch unter dem Gesamtaspekt "Ausländerfreundlichkeit" stand. Auch da war der BVB ja Initiator bundesweit und diese Geschichte gegen Rostock hat in ganz Deutschland positive Resonanz erfahren. Zu recht einmal mehr, weil der BVB sich an die Spitze einer ganz speziellen Thematik gesetzt und die Frage thematisiert hat, wie wir Dortmunder damit umgehen. Diese Geschichte passte sehr gut in die damalige Situation, da Siegfried Borchard und Christian Worch , die verschiedene rechtsextreme Veranstaltungen durchgeführt haben, Aktionen sowohl in Hamburg als auch hier ankündigten. Und dann hat Oberbürgermeister Langemeyer diesen Gedanken aufgegriffen, Dr. Niebaum angerufen und gesagt, wir machen aus dieser Geschichte für Dortmund einen runden Tisch. Und wir laden unter dem Motto: "Fremde sind Freunde" auch den ganzen Kreis Unna mit ein. Das hat man dann auch gemacht und eine Vielzahl von Veranstaltungen und Aktionen und Publikationen auf den Weg gebracht, die eigentlich kurz- und mittelfristig angelegt waren.

Es gab hier in Dortmund eine Demonstration am 20.11.00 mit Clement und vielen Künstlern auf dem Hansaplatz. Es gab Aktionen vom Jugendamt in Zusammenarbeit mit der Polizei. Wir planen eine Aktion wahrscheinlich noch in diesem Jahr mit dem BVB. Und in dem Zusammenhang hab ich dann Dr. Langemeyer, Dr. Niebaum und Michael Meier vorgeschlagen, mal ein brisantes Thema aufzugreifen, was mich persönlich schon lange interessierte. Die Thematik und auch Problematik, was der BVB zwischen 1933 und 1945 getan hat. Und das sowohl unter den sportlichen Aspekten als auch unter dem Gesichtspunkt, der politischen Positionierung. Letzteres ist eigentlich die interessante Fassette.

schwatzgelb.de: Warum erst im Jahre 2000 und nicht schon früher?

Gerd Kolbe: Ich bin auf dieses Thema eigentlich 1984 schon gestoßen, habe es aber aus verschiedenen Gründen bis zu diesem Jahr immer mit mir herumgetragen. Aber immer auch damit kokettiert, dieses Thema einmal anzugehen. Zum einen wusste ich, dass in der gesamten Bundesrepublik noch kein Verein so was aufgearbeitet hat. In den Vereinsheftchen, zu Jubiläen, zu anderen Anlässen steht immer: "und 1933 wurde es Nacht, 1945 sahen wir wieder einen Silberstreifen am Horizont. Und die Zeit, die dazwischen lag, wird dann leider deutlich vergessen." Ich bin 1984 darauf gestoßen, dass das ein Thema sein könnte, als ich ein ganz spezielles Foto gesehen habe, das den BVB 1937/38 in der "Roten Erde" zeigt (Titelfoto vom Buchcover/Die Red.).

Auf dem Originalfoto sind die NS-Insignien, das Hakenkreuz, auf den Trikots der Reichsadler etc. Nach dem 2. Weltkrieg ist eine "gereinigte Fassung" auf den Markt gekommen. Da war das Hakenkreuz nicht mehr da, da war der Reichsadler dann nicht mehr drauf und alles sah relativ rein aus. Da habe ich mich dann gefragt, warum ist das eigentlich so? Es gibt noch ein 2. Foto, aus dem Jahre 1938/39. Damals wurde die A-Jugend von Borussia Dortmund noch HJ-Gebietsmeister, heute würde man sagen Westfalenmeister. Das war der erste Sieg über Schalke mit Max Michalek, Pat Koschmieder, Heini Rumhofer. Das Spiel endete 4:2 in Münster. Großer Sieg, großes Spiel. Auch da ist auf dem Originalfoto hinten im Bereich des Marathon Tores eine riesige Flagge mit Hakenkreuz. 1946 tauchte eine Version auf, mit BVB Emblem anstelle des Hakenkreuzes. Was steckt dahinter, war die Frage für mich. Aus diesem Grunde habe ich dann also im letzten Jahr die Thematik bearbeitet, die sich förmlich aufdrängte. Als ich auch in dem schönen Buch "100 Jahre DFB" gelesen hatte, wie locker selbst der Deutsche Fußball-Bund mit diesem Thema umgegangen ist, war für mich eigentlich klar, das Thema muss man mal wirklich mit System - nicht unbedingt mit Wissenschaft - sondern journalistisch angehen. Und das habe ich getan.

schwatzgelb.de: Aber es war doch ein Wust von Dokumenten und Bildern zu sichten, der von überall her an Sie herangetragen worden ist. Konnte das überhaupt bewältigt werden?

Gerd Kolbe: Zugegeben, ich habe den Aufwand, der damit verbunden war, unterschätzt. Ich dachte, na ja, ein halbes Jahr, das ist schon ganz in Ordnung. Aber es hat dann nachher mit knapp 11 Monaten fast ein ganzes Jahr gedauert, bis alles das, was ich recherchiert hatte, zusammengetragen und dann auch ebend entsprechend formuliert war. Aber insgesamt war das alles für mich eine sehr interessante Lehre. Zum einen habe ich festgestellt, wenn man überhaupt so ein Thema aufgreifen will, dann ist es jetzt höchste Eisenbahn. Denn es gab ja nicht mehr all zu viele Dokumente, eigentlich relativ wenige Originalbelege. Und die unbezahlbaren Zeitzeugen, auf die man sich noch stützen oder berufen könnte, die sind im Augenblick langsam dabei, weil zwischen 75 und 90 Jahre alt, den himmlischen Heerscharen entgegen zu eilen. Und im Himmel kann man die relativ schlecht interviewen (lacht).

schwatzgelb.de: Waren denn noch wertvolle Zeitzeugen dabei, die wirklich historisches an Erkenntnissen beitragen konnten, was noch nicht bekannt war?

Gerd Kolbe: Ich habe das große Glück gehabt, dass ich über den Daumen etwa 10 Zeitzeugen intensiv hab befragen können. Der älteste von denen war Paul Göbel, BVB-Spieler mit dem Borussia 1939 in die Gauliga aufgestiegen ist. Der ist dann leider ein paar Monate nachdem wir miteinander geplaudert hatten, verstorben. Ich bin im Grunde sehr froh, dass ich ihn noch habe interviewen können. Ich habe auch die ganzen Interviews aufgezeichnet, so dass ich auch für den BVB diese Geschichtsforschung der frühen Jahre hab archivieren können. Aber das ist dann natürlich etwas, was einen innerlich auch sehr berührt, wenn man mit einem solchen Mann, der ja im Grunde ein Wegbereiter der großen Erfolge war, noch vor einigen Monaten gesprochen hat und dann in der Zeitung liest: Paul Göbel gestern verstorben. Das ist natürlich sehr, sehr traurig. Er hat mir einige sehr interessante Dinge mitteilen können. Nicht nur über den BVB im 3. Reich, politisch orientiert, aber recht deutlich auch über die damalige Zeit mit dem Borussia Sportplatz "Weiße Wiese", den Aufstiegsspielen und was es mit dem Zusammenhang Borsigplatz und BVB-Familie auf sich hatte. Er war für mich ein sehr wichtiger und auch interessanter Gesprächspartner. Die anderen selbstverständlich auch. Aber die haben noch das große Glück unter uns zu verweilen (lacht). Das ist natürlich im Grunde sehr erfreulich.

schwatzgelb.de: Waren die Gesprächspartner denn überwiegend Personen aus dem öffentlichen Leben, sprich politische Funktionäre vom Borsigplatz?

Gerd Kolbe: Ich habe nicht nur Leute befragen können, die eine echte Beziehung zu Borussia Dortmund haben, weil sie Borussen waren oder sind. Ich habe natürlich auch einige Zeitzeugen interviewen können, die in relativ exponierten Positionen am Borsigplatz tätig waren. Die konnten dann von außen nach innen gucken und den BVB aus einer etwas neutraleren Sicht beurteilen. Zum Beispiel Peter Paul Elisko, der über 25 Jahre hinweg der SPD- Ratsvertreter des Borsigplatzes gewesen ist, und den BVB unheimlich gut beurteilen kann. Ich habe auch einen ehemaligen recht hochrangigen HJ-Funktionär getroffen, der in dem Haus Humboldstr. 44, da wo früher einmal Concordia war, lebte. Auch das war sehr interessant, seine Sicht aus dieser Blickrichtung zu hören, wie damals diese Zeit gewesen ist. Und mit das interessanteste, das sind dann so Querverbindungen, die sich zwangsläufig ergeben. Sportlich gesehen war interessant, dass ich eine Dame kennen gelernt habe, die mit ihrem Mädchennamen Hetti Trautmann hieß. Ihr Vater hatte eine Metzgerei in der Oesterholzstraße und sie war von 1936 an Handballspielerin bei Borussia Dortmund. Und über die habe ich dann festgestellt, dass die Handballabteilung 1924 gegründet worden ist, und im letzten Jahr 75 Jahre alt wurde. Was wiederum Dieter Durling, den derzeitigen Abteilungsleiter Handball sehr gefreut hat. Ich habe von dieser Frau auch einige sehr schöne Dokumente bekommen aus der damaligen Zeit. So etwas hatten wir bislang in unserem Archiv noch gar nicht. Das ist dann immer so ein Nebenaspekt, der einen als Archivar im Grunde sehr fröhlich macht.

schwatzgelb.de: Wie kann man denn jetzt die Zeit von Borussia Dortmund zwischen 1933 und 1945 unter politischen Gesichtspunkten bewerten?

Gerd Kolbe: Ich muß da mal etwas ausholen: Wir wissen ja alle, dass der BVB 1909 entstanden ist. Und das aus einer ganz merkwürdigen Situation heraus. Borussia ist ja, wenn man so will, aus einer "Revolte" der Katholischen Kirche gegenüber entstanden. Ein Kaplan hat den BVB diskreditiert; hat die schwer geärgert, bis aufs Blut gereizt. Und nachdem sie auch noch denunziert wurden, haben die Jungs aus Liebe zum Sport und auch aus Wahrheitsliebe heraus beschlossen, sich von der katholischen Kirche zu trennen. Was damals ein echt revolutionärer Schritt war, denn die katholische Kirche war die 2. Macht im Staate. Sicherlich noch ein bisschen anders als heute. Auch damals hat Borussia schon gezeigt, dass man gerne über den Stachel nöckt,dass man nicht so ohne weiteres einfach stromlinienförmig ist, dass man durchaus einen eigenen Kopf hat, eine eigene Meinung. Das war jetzt keine politische Demonstration, aber ich sag mal einfach, eine kirchenpolitische Meinung, dass man auch da Willens ist, eigene Akzente zu setzen, so wie man sie für richtig hält. Ähnliches habe ich auch bei meinen Recherchen festgestellt, im Zusammenhang mit der Zeit zwischen 1933 und 1945. Man muss also diese Geschichte in bestimmte Kategorien einteilen. Wobei einige relativ harmlos sind und wirken, andere aber durchaus dramatisch sind.

Das 3. Reich hat etwas ganz Spezielles gemacht. Obwohl ich mich eigentlich immer für die Geschichte auch des Nationalsozialismus interessiert habe, habe ich festgestellt, dass ich bestimmte Fassetten in dieser Form noch nicht kannte. Die Nazis sind am 30. Januar 1933 an die Macht gekommen und haben staatsreichsartig innerhalb eines halben Jahres in Deutschland alles gleichgeschaltet. Es ist geradezu erschreckend, wenn man das heute nachvollzieht, dass wenige Wochen nach der Inthronisierung Adolf Hitlers der Reichstag mit zweidrittel Mehrheit dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt hat. Damit war die Diktatur eingeführt. Anschließend sind Gewerkschaften, Arbeitgeber, Sportvereine, alles was wir uns vorstellen konnten, mehr oder weniger unter die Fuchtel der politisch legitimierten Machthaber des 3. Reiches gekommen. Das galt auch eindeutig für den Sport. Der Sport hatte für die Nationalsozialisten die Aufgabe, junge Menschen vorzubereiten für den Krieg. Man kann es nicht anders interpretieren. Hitler hat dann einen Reichssportführer eingesetzt, Hans von Tschammer und Osten, der selber kein Sportfachmann war, aber früher ein eingetragener SA-Mann. Der hat ohne Gnade dem Verein bestimmte Dinge oktruiert. Diejenigen, die da nicht mitmachten, die guten ins Kröpfchen, die schlechten ins Töpfchen, die fielen weg. Die Nazis haben dann den gesamten Fussball kontrolliert und Vorgaben gegeben. Zum Beispiel mussten alle Vereine einen Vereinsführer anstelle vom Vereinsvorsitzenden einsetzen. Der Führer war der Vorstand. Das war also quasi eine kleine Diktatur innerhalb eines Vereines. Der konnte sich zwar einen Arbeitsstab gründen zu seiner Entlastung, aber es gab keine demokratischen Strukturen. Wenig später kam dann diese sogenannte Einheitssatzung hinzu. Sie wurde für alle Vereine - im Deutschen Reich gleichgeschaltet - vorgegeben.

Darüber hinaus musste jeder Verein einen "Dietwart" einsetzen. Diet ist mittelhochdeutsch und heißt Deutsch. Der Dietwart war ein Gesinnungswart, er hatte das Deutschtum zu überwachen. Er hatte mit den Abteilungen der Spielerinnen und Spielern den unterschiedlichen Mannschaften NS-Lieder zu singen, Reden des Führers am Radio zu hören oder vorzulesen, die auf die entsprechende richtige Gesinnung aus Sicht des Obrigkeitsstaates an Hand der Parteiprogramme vorbereiten, aus "Mein Kampf" entsprechend zu rezitieren, und ähnliches mehr. Das mussten alle Vereine tun. Wenn ein Verein sagte, nein das wollen wir nicht, dann wurde er aus dem Verband geschmissen. Vor jedem Spiel musste man den Hitler-Gruß machen, später auch gar noch nach dem Spiel. Diese Dinge hat Borussia Dortmund alle auch praktiziert.

Man wollte ganz bewusst im Sportverband bleiben, um ein Überleben des Ziels, was man hatte, realisieren zu können: mit dem Fussball in Dortmund die Nr. 1 zu werden. Das war das erklärte Ziel. Insbesondere wollte man auch die sogenannten "Bürgerlichen", wie zum Beispiel den DSC 95, heute Eintracht Dortmund hinter sich lassen. Das ist dann ja auch gelungen. Und sogar sehr erfolgreich gelungen. Dafür hat man die Kröte geschluckt, überließ es den Vorgaben und war sich der Tatsache bewusst, dass man in dem Rahmen systemkonform arbeiten mußte. Darüber hinaus die 2. Fassette. Da war der BVB aber sehr widerspenstig. Auch sie hatten einen Dietwart. Karl Brettin hieß der Mann, aber das war ein einsamer Mensch. Zu seinen Dietstunden ist nie einer hingegangen. Ich habe in Interviews überzeugend dargelegt bekommen, dass die noch nicht mal geglaubt haben, dass es einen Dietwart gab. Der hat also, wenn man so will, in einem luftleeren Raum agiert und hat innerhalb des Vereines keinerlei Resonanz gefunden. Er gehörte auch nicht zu dem engeren Arbeitskreis des Vereinsführers. Er hatte also bei Borussia Dortmund eine Alibifunktion

schwatzgelb.de: Hat der BVB die vorgeschriebene Satzungsänderung im Verein hinsichtlich Arierbestimmungen umgesetzt?

Gerd Kolbe: Das war also eine sehr interessante Situation. Nein, Borussia hat keinen Arierparagraphen aufgenommen in die Vereinssatzung. Die Turner haben das von sich aus gemacht. Der Süddeutsche Fussballverband hat das angeordnet. Der DFB selber aber nicht. Die Radfahrer haben es auch von sich aus in die Bundessatzung aufgenommen. Einige Städte haben das angeordnet. Hannover zum Beispiel. Borussia Dortmund hat sich da ganz gemütlich aus diesem Thema rausgehalten. Im Gegenteil, weil am Borsigplatz eine sehr liberale Gesamtsituation war. Da kamen damals wie heute ja Menschen aus allen Herrgottländern zusammen. Man pflegte eine sehr gesellschaftliche und freundschaftliche Beziehung zu allen die da waren, also auch zu den jüdischen Mitbürgern. Ein Arierparagraph hieß in der Konsequenz für alle Nicht-Arier, also alle jüdischen Spielerinnen, Spieler und Vereinsmitglieder, dass sie sofort aus dem Verein ausgeschlossen gewesen wären. Dann hat man sehr widerborstig, aus meiner Sicht, einen Punkt aufgegriffen, der sich niederschlägt in dem Heft, was zum 30-jährigen Bestehen herausgebracht wurde. Und zwar hat man ganz offen dagegen opponiert, dass die Nazis den Borussen den Borussia Platz weggenommen haben. Borussia Dortmund sieht sich zu recht als Opfer des Regimes. Der BVB hat diese berühmte "Weiße Wiese", den allerersten Platz von der Stadt Dortmund gemietet und dann 1924 ausgebaut zum Borussia- Sportplatz. 50.000 Reichsmark, je nachdem wen man fragt, 5.000 - 10.000 freiwillige ehrenamtliche Helfer standen der immer schon großen BVB-Familie dafür zur Verfügung. Die haben sich alle als eine Familie verstanden. Das stimmte auch. Das war eine Familie. Und diesen Sportplatz haben die Nazis Borussia Dortmund nach Regierungsantritt weggenommen. Mit einem relativ linken Trick. Die haben also behauptet, wir brauchen das für den Straßenbau, wir brauchen das für die Expansion von Hoesch und für den neu zu erstellenden Hoeschpark. Da ist kein Platz mehr für diesen Sportplatz. Da soll dann das Stockheidebad hin. Also weg damit. In Wirklichkeit ist aber das Stockheidebad erst 1951/1952 gebaut worden. Bis dahin war das frühere Gelände Brachland. Das hat die unheimlich gekränkt. Man unterstellt, dass Borussia, der immer noch als "roter Verein" galt (sozialistisch, kommunistisch, sozialdemokratisch), verdrängt werden sollte. Insbesondere auch deshalb, weil die Nationalsozialisten den Platzwart, Heinrich Cherkus verfolgten, weil er wie viele Kommunist war und aktiver Wiederstandskämpfer. Als man den Platz platt machte, hat man ihm natürlich auch seine Existenz genommen. Der war also im klassischen Sinne arbeitslos. Der gehörte aber zur "Borussia- Familie", wurde als Platzwart eingesetzt und war auch außerhalb überall beliebt. Und der hatte dann dadurch, dass er seinen Job verloren hatte, halt auch keine Einkünfte mehr. Das war ein ausgesprochen mieser Trick. Der BVB musste dann in die "Kampfbahn Rote Erde" umziehen. Das hat man damals nur sehr ungern getan, denn die Rote Erde war ein unbeliebtes Stadion.

schwatzgelb.de: Warum war denn die für uns so legendäre Kampfbahn Rote Erde so verpöhnt?

Gerd Kolbe: Zunächst einmal: Damals war auch noch eine etwas andere Verkehrssituation: keine U-Bahn, das Stadion war nicht entsprechend leicht erreichbar, wenn, dann nur mit dem Auto oder Fahrrad. Also ein Zwangsumzug in einen nicht gerade geliebten Bereich. In den Süden, wo die Bürgerlichen wohnten, der DSC, die Eintracht´ler, die man ja dort sportlich bekämpften musste. Man wollte später auch nicht in den Hoeschpark. Auch das war eine von den Nazis genutzte Anlage. Mit den Nazis hatte man nicht viel am Hut - um nicht zu sagen, wenig am Hut. Also ich hab z. B. die Rote Erde kennen gelernt, als das Stadion des BVBs, bevor sie dann ins Westfalenstadion umgezogen sind. Ich habe nie geahnt, dass die Borussen das Stadion vom Ursprung her gar nicht gemocht haben.

schwatzgelb.de: Wie groß war der Widerstand im BVB?

Gerd Kolbe: Und neben diesen ganzen Fassetten, die also eine deutlich widerborstige Haltung zeigen, ist der BVB, so wie ich das sehe, der einzige Verein, der im Widerstand gegen Hitler aktiv gewesen ist. Es gibt also 3 Leute, die man in diesem Zusammenhang nennen muss, zwei von denen sind von den Nazis ermordet worden. Der erste ist Heinrich Cherkus, der Platzwart, der als eingetragener Kommunist 1933 auch in das Stadtparlament gewählt wurde. Im übrigen hat man ja dann auch den Kommunisten verboten, ihr Mandat auszuüben. Damit war die Kommunistische Partei für die Arbeiterbewegung platt. Cherkus wurde wahrscheinlich am 07.03.1945 durch die Nazis in der Bittermark ermordet. Ich sage: Wahrscheinlich ermordet. Es ist nicht konkret. Wir hatten ja die Situation, dass im Rombergpark und in der Bittermark um den Karfreitag 1945 herum noch 300 Menschen ermordet worden sind: Zwangsarbeiter, Widerstandskämpfer und politisch ungeliebte Leute. Zu diesem Personenkreis gehörte eindeutig auch Cherkus - ohne jede Frage. Und das Schlimme ist, als seinen Todestag haben sie dann offiziell, damit man das nicht mehr nachvollziehen konnte, den 20.04.1945 festgelegt. 20.04.45 war der Geburtstag von Adolf Hitler. Der würde sich im Grab umdrehen, wenn er das heute wüsste. Der zweite ist Franz Hippler, wohnte auch am Borsigplatz in der Wambeler Straße und war Mitglied bei Borussia Dortmund. Er war in den 30´er Jahren mehrfach im KZ gewesen und ist dann auch im Rombergpark oder in der Bittermark, so genau kann man das heute nicht mehr nachvollziehen, ermordet worden. Nicht ermordet worden ist zum Beispiel Fritz Weller, der Vater von Rüdiger Weller. Der hat über den Arbeitersport einen Zugang zu einer Widerstandsgruppe um Max Born und Max Zimmermann bekommen . Er hat dann da am Borsigplatz sehr intensiv gegen Hitler gearbeitet. Die beiden erstgenannten, Hippler und Cherkus waren Kommunisten und Weller war Sozialdemokrat. Die haben Flugblätter gedruckt, aus Holland Material eingeschleust, auch dort verteilt. Auf so was stand schlicht und ergreifend die Todesstrafe. Bei der BVB-Familie muss man in diesem Zusammenhang sehen, dass sie innerhalb dieses Vereins auch eine Hand voll Nationalsoziallisten hatten, die Mitglieder in der NSDAP waren. Dazu gehörte z. B. Willi Röhr, der 1939 auch Vorstandsmitglied gewesen ist: ein SA-Mann aus Überzeugung. Das bekunden auch heute noch seine Söhne. Aber dieser Gesichtspunkt der Zusammengehörigkeit in der großen BVB-Familie war viel stärker ausgeprägt, als parteipolitische Überzeugung oder politische Zugehörigkeit oder Zuordnung. Im damaligen Vorstand waren Deutsch-Nationale, Sozialdemokraten, Sozialisten, Kommunisten. Ein Zusammenschluss aller Parteien, die damals da waren. Es ist also auch nicht auszuschließen, dass dort sogar Zentrumspolitiker mit dabei waren. Jeglicher Coleur waren die damals. Nur die hielten auf Gedeih und Verderb zusammen. In normalen Familien ist die politische Ausrichtung auch mitunter stromlinienförmig. Da gibt es unterschiedliche Ansichten. Aber dann wenns ans Eingemachte geht, halten alle zusammen. Und so war das früher bei Willi Röhr selbstverständlich, den Franz Hippler in den 30´ern, als er im Arbeitslager war, da auch wieder rauszuholen, indem er nachgewiesen hat, er habe in der Wambeler Str. 33 eine Wohnung, da wird Hippler dann eine Bleibe finden. Ihr könnt ihn also beruhigt in meine Obhut entlassen. Das hat man sich also gemerkt. Das war von Willi Röhr höchst abenteuerlich bis todesmutig! Der damalige Vereinsvorsitzende August Busse hat Cherkus schlicht und ergreifend die hausinterne Vervielfältigungsanlage von Borussia Dortmund zur Verfügung gestellt, damit er seine Kommunistischen Flugblätter fertigstellen konnte. Nur wäre das damals bekannt geworden, hätte ihm die Todesstrafe gedroht. Es war ein Glück, dass die Frau von August Busse zu dieser Zeit Geschäftsführerin von Borussia Dortmund war. Dadurch konnte man solch eine Situation exzellent vertuschen. Trotzdem hatte er ´Muffensausen´ gehabt ohne Ende. Denn da ging es um die nackte Existenz. Aber es war innerhalb der BVB-Familie selbstverständlich, dass man sich da half. Und diese Haltung, die man damals gezeigt hat, die ist also außergewöhnlich.

schwatzgelb.de: Gibt es Hinweise darauf, dass es bei anderen Vereinen ebenso "überfraktionell-familiär" zuging?

Gerd Kolbe: Ich würde mich freuen, wenn andere Vereine auch ihre Zeit mal aufarbeiten würden. Dann könnte man mal sehen, wie die damit umgegangen sind, ob es ähnliche Tendenzen gab. Ich persönlich glaube es nicht. Ohne es allerdings ausschließen zu wollen. Aber Borussia Dortmund war in dieser Beziehung richtig vorbildlich. Alles das, was wir von anderen Vereinen wissen, deutet darauf hin, dass man sich weitgehend anders verhalten hat als Borussia Dortmund. Jetzt ist Borussia Dortmund natürlich auch in einer besonderen Situation. Der Verein stammt vom Borsigplatz, aus dem Hoeschviertel. Die Menschen, die da lebten, arbeiteten fast ausschließlich bei Hoesch und waren durch die Entwicklung der ganzen Industrialisierung als ausgebeutete Arbeiter sehr deutlich ausgerichtet nach "Links" - Kommunismus, Sozialismus, Sozialdemokratie.

Das war der Schwerpunkt. Die Nazis mit ihrer SA haben sich damals vor ´33 gar nicht in den Bereich des Borsigplatzes vorgewagt. Das war lebensgefährlich. Die SA hat also nahezu überall in ganz Deutschland Aufmärsche gemacht - teilweise natürlich auch in Dortmund. Aber nie da unten im Dortmunder Norden. Da gings dann zur Sache. Mit der Faust - auch teilweise mit dem Knüppel, oder dem Messer, oder auch Schußwaffen. Der Dortmunder Norden insgesamt war also eine nazifreie Zone - insbesondere der Borsigplatz. Denn aus dieser durch die Historie geprägten soziologische Struktur heraus, war dann natürlich auch klar, wo die politisch standen. Dann wurden sie auch noch entsprechend ausgerichtet durch die Dreifaltigkeitskirche, zu der es -nachdem die Turbulenzen der Vereinsgründung weg waren- wieder sehr starke bis intensive Beziehungen gab. Einer der Pfarrer, Theodor Lepper, der war auch Widerstandskämpfer, war ein Jahr in Berlin von den Nazis eingelocht. Und der hat immer sehr deutliche Worte gefunden, was er von den Machthabern hielt, sowohl von der Kanzel als auch in privaten Gesprächen. Das prägte die Menschen da auch. Deswegen ist es fast zwangsläufig, dass man im Norden dort angesiedelt war, wo man sich dann ohnehin malochend wiederfand. Nur dass man so deutlich eben auch Widerstand geleistet hat direkt so wie die 3 vorhin Genannten, oder halb direkt, wie z. B. August Busse mit der Druckerei, ist etwas, da kann Borussia Dortmund sicherlich unheimlich stolz drauf sein.

schwatzgelb.de: Welche Rolle spielte denn eigentlich der Nachbar aus Gelsenkirchen für Borussia?

Gerd Kolbe: Das, was über diese spezielle politische Situation hinaus für mich unglaublich interessant war, ist die Tatsache, dass man im sportlichen Bereich ausgesprochen erfolgreich gewesen ist. Und das es etwas gegeben hat, das ich in der Form eigentlich nicht wusste und auch zu klassisch finde. Auch unter der Berücksichtigung der Tatsache, dass man auch immer zwischen Schalke und Dortmund so was Ähnliches wie eine Vereinsfeindschaft sehen will. Damals hat es zwischen Borussia Dortmund und dem FC Schalke sogar intensive Kontakte gegeben. Insbesondere mit Debulski, Kuzorra, auch mit Szepan. Kuzorra und Szepan waren verwandt, sogar verschwägert. Und unser damaliger erster Nationalspieler, August Lenz, hat dann zusammen mit Rudi Röhr und August Busse etwas initiiert, was für Borussia Dortmund völlig neu wie einmalig war. Die wollten einen profilierten Trainer und zwar einen qualifizierten haben. Und bis dato hatte Borussia keinen richtigen Trainer gehabt. Es gab auch nur wenige Vereine, die einen hatten. Damals war der Mannschaftsbetreuer zusammen mit dem Mannschaftskapitän der starke Mann. Und dann hat man Kontakt aufgenommen zu Kuzorra und gefragt: Wie sieht´s denn aus? Wir möchten gerne einen guten Trainer haben. Einer der führenden Meisterspieler, Fritz Thelen, ein weiterer Schwager, wurde also ausgeguckt, Borussias erster Trainer zu werden. Das war auch ein guter Mann. Der hat dann später auch Libuda als A-Jugendtrainer nach dem 2. Weltkrieg für Schalke entdeckt. Und der sagte, ja, der Gedanke ist gut, er war ja ein ausgebildeter Fußballlehrer. Das mache ich gern. Aber ich kann nicht, ich sag jetzt mal zum ersten 01.10. sondern kann erst zum 01.12. Und die Borussen wollten auf jeden Fall zum Beginn der Saison einen Trainer haben. Und dann hat Ernst Kuzorra sich bereit erklärt für etwa 10-12 Wochen Trainer bei Borussia Dortmund zu werden. Den ersten Trainer den Borussia Dortmund je gehabt hatte, ist die Schalker Fußballlegende Ernst Kuzorra. Das finde ich also außerordentlich interessant. Mit Thelen, der dann das WM-System mitgebracht hat, kam dann sofort der Erfolg. Mit dem sind sie dann 1936 aufgestiegen in die Gauliga. Da waren sie insgesamt 36 Jahre (ab 1963 dann in der späteren Bundesliga/Die Red.) bis 1972.

Und Thelen war dann auch noch nach dem 2. Weltkrieg 1945 wieder der erste Trainer, den Borussia Dortmund verpflichtet hat, mit dem man dann so langsam aber sicher Richtung Oberliga gegangen ist. Man ist in die Gauliga aufgestiegen, August Lenz wurde 1935 erster BVB- Nationalspieler. Alles erklärte Ziele von August Busse. Er wollte den sportlichen Erfolg, die Nr. 1 in Dortmund. Das hatte er auch erreicht. Und 1947 ist man dann im heutigen DFB-Pokal sogar bis ins Viertelfinale gekommen. Das war das erste mal, dass Borussia Dortmund über die Stadtgrenzen hinaus, wenn man so will, reichsweit, in den Schlagzeilen stand und leider in Stuttgart gegen Mannheim im Viertelfinale dann 3:4 verloren. Man war aber der moralische Sieger. Das war ein ganz fulminanter Erfolg für Erich Schanko & Co. Dann kam die überragende Jugendarbeit. Die brachte Früchte: 1938/39 HJ-Gebietsmeisterschaft. Das war dann auch die Grundlage für die großen Erfolge nach dem 2. Weltkrieg. Denn die Koschmieder, Michallek, Ruhmhöfer waren ja nachher die Korsettstangen der Mannschaft, die praktisch 1949 Deutscher Vizemeister wurde. Und von denen, die Westfalenmeister der A-Jugend geworden sind, sind 3-5 noch im 2. Weltkrieg gefallen sind: außerordentliche Talente. Also der BVB hätte ohnehin dann den Marsch nach vorne auf Grund der eigenen Jugendarbeit schon angetreten. Dann kam 1943 der erste Sieg über Schalke im November. Das 1:0, das damals August Lenz gemacht hat. Das war aber letztendlich sportlich unwichtig. Zu diesem Zeitpunkt war Dortmund schon so geschlagen und gezeichnet als Stadt wie andere Städte auch. Der Krieg hatte schon so schreckliche Zerstörung hinterlassen und Opfer gefordert, so dass man den sportlichen Gesichtspunkt nicht mehr einbringen kann. Das ist ganz einfach nur für eine Statistik interessant. Damals war der erste Sieg in der Roten Erde, 1:0 durch August Lenz. Die Meisterschaftsspiele, also die Endspiele um die Deutsche Meisterschaft, oder die Endrundenspiele wurden zum Beispiel nie in Gelsenkirchen ausgetragen. Die haben damals also sehr viele Spiele hier bei uns gemacht. Und man mag es kaum glauben: Sie waren letztendlich auch in Dortmund beliebt und wurden geliebt. Ich verstehe diese Rivalität sowieso nicht und finde es Schwachsinn. Aber losgelöst davon, sind das so die groben Züge von Borussia Dortmunds Geschichte und seinem Leben im 3. Reich. Ich bin schon der Meinung, dass man mit Sicherheit sagen kann, dass man sehr aufrechten Ganges durch diese Zeit gekommen ist. Man kann natürlich auch die Opfer beklagen. Die menschlichen Opfer, aber auch letztendlich den Verlust der "Weißen Wiese" des Borussia Sportplatzes. Diese 12 Jahre Nationalsozialismus haben der Welt viel unrecht getan. Den Menschen in Deutschland ohnehin und wenn man jetzt diese kleine Fassette nimmt, ohne das jetzt überakzentuieren zu wollen, dem BVB sicherlich auch.

schwatzgelb.de: Wenn Sie jetzt eine Überschrift wählen sollten, welche würde es sein?

Gerd Kolbe: Ich würde das Ding nennen: "Aufrechten Ganges durch die Zeit des Nationalsozialismus". Das ist eigentlich die Vakanteste.

Unterstütze uns mit steady

Weitere Artikel