Warmlaufen

Auf der Suche nach dem Fußballstadt-Gefühl

30.04.2021, 08:52 Uhr von:  Scherben
Das Bild zeigt die Fassade der Kieler Haupttribüne.
Nein, das ist nicht das Westfalenstadion. Aber es geht ja gegen Holstein, und auf der Kieler Südtribüne sieht man immerhin das Vereinswappen!

Zieht man von Dortmund nach Kiel, ist man mit einem ganz neuen Gefühl konfrontiert: Auch ohne Pandemie kriegt man gar nicht immer mit, dass ein Heimspiel stattfindet. Ein bisschen Wehmut zur Einstimmung aufs Pokalhalbfinale im Westfalenstadion.

Bild von der Meisterfeier 2011, als die ganze Stadt voll mit Menschen in Trikots war.
Dortmunds Straßen sind einfach schön, wenn alle Leute gelb tragen! (Und zum 10-jährigen Jubiläum der Meisterschaft 2011 passt das Foto doch ganz gut!)

Meine schönsten Heimspieltage in Zeiten vor der Pandemie waren Samstage im Frühling. Anstoß gern erst um 18:30 Uhr, so dass man morgens noch viel Zeit hat, um Dinge zu erledigen. Und dann geht man bei bestem Wetter durch die Stadt, trinkt vielleicht einen Kaffee auf dem Markt oder holt sich schon das erste Bier, und überall tauchen gelbe Farbtupfer auf. Menschen im Trikot, die genau wie man selbst heute nicht mehr allzu viel zu tun haben und sich auf das Spiel am Abend freuen. Mit jeder Stunde wird die Stadt gelber, und alles bewegt sich langsam Richtung Süden. An jeder Bude steht eine Kleingruppe, die Kneipen sind innen und außen gut gefüllt, und von überall her strömen weitere Menschen herbei. Eine Stadt bewegt sich langsam auf ihr Stadion zu.

Das Bild zeigt den Segelhafen in Kiel-Schilksee.
In Kiel geht man nicht zum Fußball, hier segelt man mit dem eigenen Boot in olympischen Gewässern.

Seit ich vor einigen Jahren von Dortmund nach Kiel gezogen bin, suche ich vergeblich nach diesem Gefühl. Und dabei geht es gar nicht um das Spiel an sich, denn man kann ja auch aus der Distanz mitfiebern und hoffentlich auch bald wieder nach Dortmund fahren, sondern darum, dass für diesen einen Tag der Alltag stillsteht und heute alles auf den BVB ausgerichtet ist. Als Ruhrgebietskind muss man erst einmal lernen, dass nicht jede Stadt eine Fußballstadt ist. Und gerade Kiel ist es nicht. Nicht mit der Konkurrenz durch den traditionell deutlich erfolgreicheren THW Kiel und nicht mit der Nähe zur Ostsee, an oder auf der sich gerade im Sommerhalbjahr ein Großteil des Alltags abspielt. Ohne bösartig klingen zu wollen, kann es einem auch ohne Pandemie hier passieren, dass man erst beim Blick auf die Ergebnisse der 2. Bundesliga mitbekommt, dass Holstein offenbar ein Heimspiel hatte.

Das Bild zeigt ein Foto der neuen Kieler Osttribüne.
Wo man sich beim letzten Pokalspiel 2012 noch kalte Füße holte, ohne irgendwas zu sehen, steht mittlerweile Holsteins neue Osttribüne.

Dabei hat Holstein seit dem letzten Aufeinandertreffen mit dem BVB einen gewaltigen Entwicklungssprung hinter sich, aber gerade Fankultur entwickelt sich eher über Generationen als binnen weniger Jahre. Sportlich ist aus dem Viertligisten von 2012 jedenfalls ein ambitionierter Zweitligist geworden, der zum zweiten Mal nach 2018 sehr vehement versucht, den Aufstieg in die Fußball-Bundesliga zu schaffen. Das Ganze läuft nicht nur deswegen weithin unter dem Radar ab, weil Kiel eben Kiel ist, sondern auch weil der Fußball sehr unspektakulär daherkommt. Wie viele gute Zweitligisten der letzten Zeit steht Holstein für soliden Fußball ohne große Schnitzer, wie nicht nur die mit Abstand beste Abwehr der Liga belegt. Wenn Kiel seine Spiele gewinnt, dann gefühlt meist 1:0, und nicht umsonst ist nicht der ehemalige Torgarant der Dortmunder U19, Janni Serra, der erfolgreichste Torschütze seiner Mannschaft, sondern Mittelfeldspieler Alexander Mühling. Dank acht Elfmetertoren.

So gilt für den BVB am Samstag, was auch gegen viele Teams aus dem unteren Mittelfeld der Bundesliga gilt: Schwierig wird es vor allem dann, wenn unsere Mannschaft in einen Tiefschlaf fällt und früh in Rückstand gerät. Auch gegen Kiel wird man nicht mit angezogener Handbremse gewinnen, und gerade wenn Holstein tief stehen und mit seinen schnellen Offensivspielern kontern kann, dann wird die Aufgabe schwerer, als sie von der Papierform her klingt. Viel schlechter als Köln oder Augsburg ist Holstein jedenfalls auch nicht, auch wenn man der Mannschaft noch anmerkt, dass die doppelte 14-tägige Quarantäne der letzten Monate einiges an Kraft gekostet hat. Wenn man wissen will, wozu Holstein prinzipiell in der Lage ist, kann man jedenfalls einfach mal in München nachfragen.

Das Bild zeigt die Gästetribüne beim Spiel des BVB in Kiel 2012.
Der Gästeblock beim letzten Pokalspiel in Kiel 2012. Es war wirklich sehr kalt.

Schwer zu sagen ist ansonsten, wie groß die Euphorie in Kiel rund um dieses Spiel wäre, wenn tatsächlich auch Zuschauer zugelassen wären und das Ganze vielleicht sogar im Holstein-Stadion stattfinden würde. Ein Pokalhalbfinale gegen den großen BVB, das hätte man wohl sogar hier gemerkt. So ist das Spiel in Dortmund, wo es ohne Pandemie natürlich auch so gewesen wäre, wie es sonst immer ist: Ein Heimspiel an einem Samstagabend mitten im Frühling, da hätte man trotz Feiertag und Arbeiterfolklore schon sehr früh den gelben Demonstrationszug zwischen Hoher Straße und Lindemannstraße beobachten können, der gen Westfalenstadion zieht, und dann hätte man kurz für ein Pläuschchen stehenbleiben, einer Freundin auf der anderen Straßenseite zuwinken oder einen Bekannten im Vorbeigehen in den Arm nehmen können. All das fehlt schon sehr, auch wenn es im Vergleich zur sichtbaren Leere auf den Tribünen nicht so sehr auffällt. Aber dieses Gemeinschaftserlebnis macht den Fußball eben auch aus. Ich werde weiter danach suchen.

So könnten sie spielen

Borussia Dortmund: Hitz - Piszczek, Akanji, Hummels, Guerreiro - Can, Bellingham - Reyna, Reus, Sancho - Haaland

Holstein Kiel: Dähne - Dehm, Wahl, Lorenz, van den Bergh - Lee, Meffert, Hauptmann - Reese, Serra, Bartels

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