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Das Märchen vom Jugendwahn

07.07.2017, 18:51 Uhr von:  Sascha
Das Märchen vom Jugendwahn
u. a. Dembélé, Mor und Pulisic

Wenn irgendwo auf der Welt ein 18-jähriger verkündet, den Verein wechseln zu wollen, dann erscheint fast automatisch ein Transfergerücht in Richtung BVB. Aber was ist eigentlich dran am noch recht neuen Ruf, das perfekte Sprungbrett zu Europas Spitze zu sein?

Die Sommerpause ist nicht für Fußballfans Saure-Gurken-Zeit, sondern natürlich auch für alle Gazetten und Sportberichterstatter, die ihre Sportressorts täglich mit Inhalten füllen müssen. Ganz besonders beliebt ist dazu das muntere, immer hektischere Verbreiten von Transfergerüchten. Aus jeder losen Anfrage, ob ein Spieler sich einen Wechsel vorstellen könne, wird gleich brandheißes Interesse eines Vereins und notfalls kann man immer noch zig Mal durchgenudelte Listen potentieller Abgänge durchkauen.

Bei uns in Dortmund ist das nicht anders – allerdings spezieller als anderswo. Offenbar ist die erste Rasur eines Spielers aus den Jugend-Nachwuchsmannschaften eines Topteams mittlerweile untrügliches Anzeichen dafür, dass wir an ihm dran sind. Wenn der betroffene Spieler dann auch noch auf den Außenbahnen im Mittelfeld spielt, dann steht er quasi schon ganz dicht vor der Unterschrift eines Vertrages bei uns. Warum? Weil wir mittlerweile selbsternannter Aus- und Weiterbildungsbetrieb für Europas Toptalente sind. Dieses Narrativ der jugendlichen Rasselbande hat sich so sehr verselbstständigt, dass man fast meinen könnte, in der letzten Saison hätte für die Mehrzahl der Kicker in der Startelf noch ein gesetzlicher Anspruch auf Ganztagsbetreuung bestanden.

Woher kommt dieser Eindruck eigentlich? Nimmt man die Einsatzzeiten der Spieler in der letzten Saison, dann waren mit Julian Weigl, Ousmane Dembélé und Matthias Ginter gerade einmal drei Spieler aus den Top Ten jünger als 25 Jahre. Zum Vergleich: Bei RaBa Leipzig ist das Verhältnis genau umgekehrt. Auch Hoffenheim weist mit fünf Spielern in der Liste der zehn am meisten eingesetzten Spieler einen höheren Wert aus als der BVB. Jugendwahn sieht anders also aus.

Nachhaltig geprägt haben diesen Eindruck dabei vor allem Julian Weigl und natürlich ganz besonders Ousmane Dembéle. Weigls Durchbruch war dabei vor zwei Jahren die absolute Topüberraschung – vermutlich auch für ihn selbst. Als 18-Jähriger mit den Münchener Löwen gerade noch so dem Abstieg in die Drittklassigkeit entflohen, hätte wohl kaum jemand damit gerechnet, dass er in seiner Premierenerstligasaison insgesamt 51 Mal auf dem Platz stehen und als nahezu uneingeschränkter Herrscher im defensiven Mittelfeld den Rhythmus des Spiels bestimmen würde.

Der Durchstarter der Saison - Ousmane Dembélé

Bei Dembélé ist der Fall da schon etwas anders gelagert. Bei einem Spieler, der schon im Notizbuch des FC Barcelona stand, kann man wohl kaum noch von einem unentdeckten Geheimtipp sprechen. Und in der Mehrzahl seiner Saisoneinsätze zeigte „Ous“ auch ganz deutlich, dass selbst Stevie Wonder erkannt hätte, was für ein riesiges Potential in diesem Spieler schlummert. Ihn zum BVB zu locken, war eine großartige Leistung aller Beteiligten, und sie wird sich in Zukunft sowohl sportlich als auch finanziell sehr deutlich auszahlen.

Schon leichte Abstriche muss man dann bei Raphaël Guerreiro und Christian Pulisic machen. Guerreiro war eine der Überraschungen aus der Mannschaft von EM-Sieger Portugal und wäre vermutlich nicht mehr in Dortmund gelandet, wenn man sich seine Dienste nicht bereits vor dem Turnier gesichert hätte. Mit dementsprechend viel Rückenwind startete er in die Saison und machte vor allem im Spiel gegen Wolfsburg mit einem Tor und zwei Vorlagen auf sich aufmerksam. Allerdings konnte er in der gesamten Rückrunde einem Spiel nicht noch einmal so einen Stempel aufdrücken und er wird auch in Zukunft um seinen Platz kämpfen müssen. Für die Position des linken Außenverteidigers wird es für ihn darauf ankommen, wo der neue Trainer Bosz dort den Schwerpunkt legen wird. Geht es ihm darum, dass auf dieser Position vorrangig defensiv gearbeitet wird, ist Guerreiro gegenüber Schmelzer im Nachteil. Im offensiven Mittelfeld gibt es mit Götze, Schürrle, Reus und eben Pulisic gleich mehrere Spieler, die dort auflaufen können.

Christian Pulisic kam dabei wettbewerbsübergreifend auf fast exakt die gleiche Einsatzzeit wie Guerreiro, nämlich handgestoppte 2.323 Spielminuten. Das ist für einen 18-Jährigen definitiv kein schlechter Wert, aber er ist trotzdem noch ziemlich deutlich von der Bedeutung entfernt, die der in den USA offenbar um ihn grassierende Hype vermuten lässt. Frei von Verletzungen fand er in jedem Bundesligaspiel einen Platz im Kader, spielte aber nur zehn von 34 Partien tatsächlich über 90 Minuten durch. Mit durchschnittlich 52 Minuten pro Spiel hat Pulisic es in seiner ersten kompletten Profisaison immerhin zu einer Art ersten Einwechselspieler im offensiven Mittelfeld gebracht.

Es ist also auch beim BVB alles andere als ein Selbstläufer, sich als junger Spieler zur Stammkraft zu entwickeln. Neben zwei herausragenden und zwei immer noch guten Beispielen gibt es eben auch Spieler, die es nicht, oder zumindest nicht auf Anhieb, geschafft haben. Dabei wirkt dieses Urteil bei Matthias Ginter komplett paradox, wenn man die puren Statistiken und Erfolge betrachtet. Er ist zum BVB als Senioren-Weltmeister gekommen, ist hier DFB-Pokalsieger geworden und hat in der letzten Saison mehr Spielzeiten gesammelt als etablierte Kräfte wie Marcel Schmelzer oder Lukasz Piszczek. Und trotzdem ließ man ihn die Tage ohne große Gegenwehr nach Gladbach ziehen. Ein Wechsel, der vermutlich von beiden Seiten aus so gewollt war. Trotz allem scheint ihm die sportliche Leitung in Dortmund den weiteren Sprung zum Stammspieler im Vergleich zur Konkurrenz aus Sokratis, Bartra und Toprak nicht zugetraut zu haben.

U19-Meister und vielleicht bald nach Berlin ausgeliehen

Bei den übrigen „Jungspunden“ sehen die Statistiken schon deutlich schlechter aus und bei allen weiteren Kickern der Fraktion, die in diesem Sommer noch bei der U21-EM nach Alterskriterium hätten teilnehmen können, stehen die Zeichen zumindest auf eine Ausleihe zu einem anderen Verein.

Felix Passlack und Emre Mor schienen in der Hinrunde zumindest nah dran gewesen zu sein, eine echte Alternative für die Älteren zu werden und sich einen ähnlichen Status wie Pulisic zu erspielen. Felix Passlack, der zusammen mit Pulisic den Sprung aus der eigenen Jugend zu den Profis schaffte, stand in den ersten zehn Partien ganze sieben Mal auf dem Platz, Emre Mor immerhin fünf Mal. In diesen ersten zehn Spielen sammelten sie damit mehr Spielzeit als im gesamten Verlauf der restlichen Saison. Felix Passlack ist ein Kandidat für eine Leihe in die Hauptstadt zur Hertha, der von Otto Addo schon mit Messi verglichene Emre Mor wird vermutlich über den Umweg der Süper Lig den Durchbruch versuchen.

Mikel Merino dagegen soll dem Vernehmen nach bereits in der Winterpause angesichts von drei Einsätzen, einer davon gegen Hoffenheim für eine Minute, um diese Möglichkeit gebeten haben, um Spielpraxis zu bekommen. Warum diesem Wunsch nicht entsprochen wurde, bleibt angesichts der ähnlich geringen Spielzeiten in der Rückrunde unklar.

Ob es dem jüngsten Neuzugang Alexander Isak in Dortmund besser gefallen hat als Merino, darf auch bezweifelt werden. Auch bei diesem Winterpausentransfer durfte der Vergleich mit einem großen des Weltfußballs natürlich nicht fehlen und so zahlte der BVB über acht Millionen Euro für den designierten Nachfolger von keinem geringeren als Zlatan Ibrahimovic an AIK Solna. Dabei war von Anfang an klar, dass die Rückrunde eher eine Art Akklimatisierung sein sollte und man sich noch keine Wunderdinge von ihm erwartete. Schließlich befand sich die schwedische Liga schon seit Wochen in der Winterpause und der Qualitätssprung zur Bundesliga ist enorm.

Dass es dann letztendlich zu einem einzigen Auftritt über vier Minuten um DFB-Pokal gegen die Sportfreunde Lotte gereicht hat, hat vermutlich nicht nur ihn überrascht. Ist das alles Teil eines großen Integrationsplan gewesen, dann muss man den Hut ziehen vor einem 17-jährigen, der weise genug ist, bald ein Dreivierteljahr fast komplett ohne Pflichtspieleinsatz zu bleiben, um auf ein großes Ziel hinzuarbeiten. Die Lesart, dass Isak einfach ein Opfer der Querelen zwischen Trainer und sportlicher Leitung geworden ist und Thomas Tuchel mit ihm nichts anfangen konnte, wäre da schon viel bitterer. Der BVB hat als Arbeitgeber auch eine Verantwortung gegenüber seinen Angestellten und dürfte gerade einen nicht einmal volljährigen Menschen nicht so einer Situation aussetzen. Auch hier wäre es keine Überraschung, wenn Isak zumindest auf Leihbasis in dieser Saison für einen anderen Verein die Stiefel schnüren würde.

Alexander Isak - hoffentlich mehr als nur Missverständnis
Dabei kann man sowohl bei Emre Mor als auch bei Alexander Isak postulieren, dass ihre Transfers sehr wohl zur Festigung des Rufs als Talententwickler beigetragen haben. Wenn auch nicht unbedingt in sportlicher Hinsicht. Mehr als acht beziehungsweise neun Millionen Euro für die Verpflichtung von bis dahin in Europa unbekannten Spielern bedeuteten nicht nur für ihre abgebenden Vereine Nordsjaelland und Solna die Pulverisierung jeglicher interner Ablöserekorde, die Beträge waren auf dem Transfermarkt auch ein lautes Trommeln, um als Deluxe-Talentschmiede auf sich aufmerksam zu machen. Dabei fällt in der Wahrnehmung oft ab, dass sich diese insgesamt 17 Millionen Euro bislang weder für die Spieler noch für den BVB wirklich rentiert haben.

Auch Borussia Dortmund hat also nicht die Superformel entdeckt, die aus jedem jungen, talentierten Spieler den nächsten Weltklassekicker macht. Zwar haben wir besonders in den letzten ein oder zwei Spielzeiten den Blick auf dem Transfermarkt bevorzugt in den unteren Altersklassen schweifen lassen, das sollte aber nicht den Blick dafür vernebeln, dass es für diese Spieler bei uns auch nicht leichter ist als anderswo. Nur wer sich auf Anhieb auf hohem Niveau präsentieren kann, kommt zu passablen Einsatzzeiten, und das ist aufgrund der Konkurrenz an älteren Spielern nicht so leicht. Wie haltbar der Ruf als attraktives Sprungbrett für die Spitze ist, wird sich auch daran entscheiden, wie die deutlich größere zweite und dritte Reihe sich entwickelt. Sollte der ganz große Sprung bei den Pulisics, den Mors und den Isaks ausbleiben, dann verschwinden auch wir bald wieder aus der Gerüchteküche des Fußballkindergartens.

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