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Antisemitismus im Fußball des 21. Jahrhunderts

17.10.2014, 08:35 Uhr von:  Redaktion

Über 100 Gäste im Lernzentrum des WestfalenstadionsAntisemitismus gibt es auch im 21. Jahrhundert noch. In Europa findet er immer wieder Einzug in die Fußballstadien. Darüber berichteten am Dienstagabend im Westfalenstadion Jannis Stenzel und Paul Mentzwerden. Die beiden Sozialwissenschaftler waren einer Einladung der Initiative ballspiel.vereint! gefolgt. Ihr Vortrag war der zweite dieser Art innerhalb der diesjährigen FARE-Aktionswochen.

Jannis und Paul, beide BVB-Fans, zeigten in einem Vortrag, wie der Antisemitismus des 21. Jahrhunderts funktioniert und welche Formen er in Fußball-Fanszenen annimmt. Ihre Standpunkte wurden im Anschluss durchaus kontrovers diskutiert.

Offener Antisemitismus in Europa

Vorurteile gegen Juden und gezielt gegen sie gerichtete Angriffe findet man leider nicht nur in angestaubten Geschichtsbüchern, man liest auch in den Zeitungen von heute noch regelmäßig davon. Im Mai dieses Jahres stürmt ein junger Mann in das Jüdische Museum in Brüssel, erschießt vier Menschen und flieht. Er wird später gefasst. In Wuppertal fliegen zwei Monate später nachts Molotowcocktails auf eine Synagoge, verletzt wird glücklicherweise niemand.

Auch der Fußball blieb in der jüngeren Vergangenheit nicht verschont. Vor zwei Jahren überfallen 30 maskierte Ultras von Lazio und AS Rom Tottenham-Fans im Rahmen des Europa-League-Spiels zwischen Lazio und den Spurs. Sie verwüsten dabei ein Lokal und verletzten zehn Menschen. Die Behörden sprechen im Nachgang von einem antisemitischen Hintergrund dieser Tat. „In Europa hat es durchaus Tradition, dass sich Antisemitismus offen gegen Vereine richtet, die als jüdisch ausgemacht werden, aber tatsächlich keine jüdische Tradition besitzen“, erzählt Paul und meint damit auch Tottenham. Im Olympiastadion in Rom konnte man deutlich „Juden Tottenham“-Gesänge vernehmen. Ein anderes prominentes Beispiel ist Ajax-Amsterdam, deren Fans vom jeweiligen Gegenüber auch mal mit Zischgeräuschen begrüßt werden, die an das Gas in den Konzentrationslagern der Nazis erinnern soll. Es gibt viele weitere Beispiele dieser Art, auch in Deutschland.

Vieles habe sich auch gebessert, merkt Paul an, „aber das empfinde ich vielleicht auch nur, weil in nicht mehr so oft mit der U-Bahn zum Stadion fahre.“ Klar ist: Antisemitismus geht nicht immer auch mit physischer Gewalt einher, wie in Rom oder Brüssel. Jannis beschreibt den Antisemitismus als eine Denk- und Handlungsweise, „wo das Jüdische als traditions- und gemeinschaftszersetzend gesehen wird. Eine destruktive Macht gegen Institutionen und soziale Werte.“

Sind bestimmte Denkstrukturen von Fußballfans problematisch?

Im Hintergrund ein geschändeter jüdischer FriedhofDie beiden Jungs möchten zeigen, wie und wo in heutigen Fanszenen und Stadion ebenfalls antisemitische Muster zu erkennen sind. Dabei ist ihnen eines wichtig: „Wenn sich jemand bei einem dieser Dinge ertappt, ist er nicht automatisch Antisemit. Davon spricht man nur, wenn sich ein bestimmtes Denken auch wirklich gegen Juden richtet. Wir möchten nur zeigen, dass bestimmte Denkstrukturen trotzdem problematisch sein können.“ Denn die Projektionsleistung, die dem antisemitischen Denken zugrunde liegt, weise Analogien mit dem Denken vieler, auch kritischer Fußballfans auf.

In kritischen Aktionen wie „Tradition schlägt jeden Trend“, die sich gegen die Kommerzialisierung des Fußballs richten, erkennt Jannis ein Motiv, das sich auch im Antisemitismus wiederfindet: Die romantische Verklärung der Vergangenheit und das Sehnen nach früheren Werten – für deren Zerstörung „der Jude“ verantwortlich gemacht wird. Auch im Fußball werde die Verdrängung von Tradition durch voranschreitende Professionalisierung und Kommerzialisierung des Fußballgeschäfts simpel personifiziert: Red Bull, geldgierige Funktionäre, Sponsoren, Dietmar Hopp. Die Liste lässt sich erweitern, ist aber überschaubar. Auf der anderen Seite möchte man große Titel seines Vereins und Ausflüge in glanzvolle Wettbewerbe wie die Champions League nicht missen. Das eine (Erfolg) ist ohne das andere (Geld) aber nicht zu haben. Zumindest nicht langfristig. Für Paul zeigt sich hier eine Aufspaltung des Kapitalismus in Gut und Böse. Er erkennt Ähnlichkeiten zur Trennung des produktiven Kapitals (die ausgebeutete Arbeiterschaft) und des raffenden Kapitals (Banken, Zinsen, Unterdrückung). Für Letzteres steht im Antisemitismus „der Jude“. „Das ist natürlich nicht das gleiche, lediglich ein dem Antisemitismus zugrunde liegendes Denken.“

Jannis und Paul führten noch weitere Faktoren auf wie die Entmenschlichung des Gegenübers auf, wie sie geschieht, wenn wir Dortmunder von den Blauen „Zecken“ genannt werden oder RB Leipzig als „Rattenball“ verspottet wird, das klare Freund/Feind-Schema beim Fußball und derbe, grenzwertige Beschimpfungen. Zum Beispiel das beim Derby beliebte „Am Tag, als der FC Scheiße starb“.

Klar, dass im Anschluss des Vortrags rege über die Anregungen der beiden diskutiert wurde. Manche plädierten für mehr Respekt und weniger kollektive Abneigung unter Fußballfans, ein anderer kritisierte, wie ich finde nicht zu Unrecht, dass die im Vortrag beschriebenen Handlungen und Einstellung nicht ausschließlich Merkmal von Antisemitismus, sondern vielmehr von allgemeiner Menschenfeindlichkeit seien.

Ich persönlich schätze auch einige Dinge anders und weniger gefährlich ein als Jannis und Paul. Dennoch gab es während des Vortrags und der anschließenden Diskussion den ein oder anderen Denkanstoß. Erfreulich auch, dass mehr als 100 Leute, mehr als Stühle da waren, zu diesem Anlass ins Westfalenstadion kamen. Gerne wieder!

Vielen Dank an Jess für die Fotos!

Malte S., 17.10.2014

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