Unsa Senf

Darf man einen Jugendlichen aus dem Ausland verpflichten?

19.09.2013, 17:44 Uhr von:  Redaktion

Borussia Dortmund verpflichtet den 15-jährigen Mateusz Ostaszewski von Jagiellonia Bialystok. Mateusz befindet sich laut Reviersport bereits in Dortmund, begleitet von seiner Mutter. Später soll auch noch der Stiefvater nachkommen und die Familie wieder komplettieren. Dass Fußball mittlerweile eine globale Angelegenheit ist, sei an dieser Stelle unbestritten. Ebenso Gang und Gäbe ist es, dass die großen Vereine bereits im Jugendbereich intensiv scouten und versuchen, die Toptalente bereits in frühen Jahren ausfindig zu machen und an sich zu binden. Aber muss es wirklich sein, dass man einen 15-jährigen aus dem Ausland verpflichtet und aus seiner Heimat nach Dortmund holt? Wird hier nicht eine Grenze überschritten und in die Entwicklung eines jungen Menschen in ungesunder Art eingegriffen?

Contra

Klar, wer wirklich und ernsthaft eine Karriere als Fußballprofi anstrebt, hat so schon keine normale Jugend wie andere Gleichaltrige. Freizeit und oft auch Schule müssen dem Ziel untergeordnet, der Fokus voll auf den Fußball gelegt werden. Einem Jungen wie Ostaszewski werden dazu auch noch letzte Reste Normalität wie Freundeskreis und eine gewohnte Umgebung genommen und durch eine fremde Sprache und eine zumindest andere Kultur ersetzt. Wobei der Sprung von Polen nach Deutschland sicherlich leichter fallen wird als beispielsweise einem afrikanischen Jugendlichen, der mit windigen Versprechungen nach Skandinavien gelockt wird, um dort als einer von vielen um den großen Durchbruch in Europa zu kicken.

Dabei ist es ja wirklich keine Seltenheit mehr, dass Familien ins Ausland ziehen. Auch dort werden Kinder und Jugendliche aus ihrem Freundeskreis gerissen und müssen sich in einem fremden Land behaupten und eine fremde Sprache lernen. Und viele von ihnen werden so etwas später sogar als wichtige und gute Erfahrung werten. Der Fall ist aber in sofern anders gelagert, als dass normalerweise die Familie mit der Perspektive auf einen besseren Job für Vater und/oder Mutter und einem höheren Lebensstandart die Heimat verlässt. Im Fall von Ostaszewski zieht die Familie nach Dortmund, weil der Sohn Profifußballer werden möchte. Ob bewusst oder unbewusst, der Druck, ob der Umzug nach Deutschland wirklich ein Erfolg war, lastet auf seinen Schultern. In diesem Fall geben die Eltern ihr gewohntes Umfeld auf, weil der Sohn Kariere machen soll. Und dabei ist bei einem Spieler in diesem Alter nicht einmal ansatzweise klar, ob sie überhaupt das Zeug zum Profi haben. Eine große Anzahl von Jugendlichen galt schon als das kommende Toptalent, ohne den Sprung letztendlich zu schaffen. Den einen fehlte der letzte Wille, andere konnten ihr Talent nie ganz ausschöpfen. Wie schwer solche Entwicklungen voher zu sagen sind, sollte man doch gerade bei Borussia wissen. Ein Spieler wie Vladimir But wurde als Juwel bezeichnet, um dann später bei Vereinen wir Shinnik Yaroslavl oder OFI Kreta zu kicken. Dafür hat man die heutigen Leistungsträger Großkreutz und Reus damals in der U17-Jugendmannschaft aussortiert, weil man sie nicht für robust genug hielt.

Und auf dieser unsicheren Basis beginnt Mateusz Ostaszewski und seine Familie jetzt ein Leben in Dortmund. Es liegt an ihm, ob daraus eine Erfolgsgeschichte wird, oder seine Familie umsonst aus Polen fortgezogen ist. Man bürdet ihm da eine ganze Menge auf.

Auf den Nachwuchsspieler prasselt in jungen Jahren eine Menge ein. Profifußballer werden, Erwachsen werden und sich so ganz nebenbei in einem neuen Land einleben. Alles unter dem Druck, ständig Topleistungen bringen zu müssen. Die Frage, die sich stellt, ist die, ob ein 15-jähriger so etwas wirklich leisten kann. Der Spieler selbst wird vermutlich ohne zu zögern mit „Ja" antworten. Welcher Jugendliche würde schon ablehnen, wenn ein Champions-League-Finalist anklopft und die Chance bietet, dort seinen Traum zu verwirklichen. Was diese Entscheidung letztendlich bedeutet, wird er am allerwenigsten abschätzen können. Hier sind die Vereine, ebenso wie die Eltern in der Pflicht, für einen jungen Menschen wirklich das Beste zu wollen. Und das Beste ist in meinen Augen, den Spieler erst dann zu verpflichten, wenn er alt und reif genug ist, diese Entscheidung zu überblicken und selbst fällen zu können.

Auch wenn das vielleicht heißt, dass man auf einen späteren Topspieler zum Nulltarif erst einmal verzichtet und riskiert, dass andere Vereine später zuschlagen und den Spieler verpflichten. Hier geht's auch um Menschen, nicht um Investitionsgüter.

Pro

Wo ist eigentlich das Problem? Ein 15jähriger versucht, seine Träume zu verwirklichen, und seine Eltern helfen ihm dabei. Das sind zunächst die harten Fakten, wenn Mateusz Ostaszewski sich in Begleitung von Mutter und Stiefvater auf den Weg aus der polnisch-weißrussischen Grenzregion nach Dortmund macht, um hier fortan gegen den Ball zu treten.

So weit, so unaufgeregt die Faktenlage. Denn alles andere macht unser Kopf daraus: Überehrgeizige Eltern, die vermeintlich so prekär leben, dass sie alle ihre Hoffnungen nur auf den Sohnemann setzen. Und der arme, entwurzelte Jaust geht unter dem Druck dann ein. So in etwa das Szenario, das sich der Kopf ausmalt. Dabei könnte es ja auch ganz anders sein.

Doch der Reihe nach: Jahr für Jahr werden ganz ohne Fußball unglaublich viele Kinder in Europa vermeintlich „entwurzelt", weil der berufsbedingte Umzug der Eltern in den benachbarten Stadtteil, in eine andere Stadt oder gar ein anderes (Bundes-)Land die gewohnte Umgebung pulverisieren und aus engen Freunden erst einmal weit entfernte Freunde werden. Klingt nicht schön, ist aber gelebte Realität. Für manche Kinder sogar mehrfach. Nimmt irgendwer diese Eltern in die Pflicht? Stört sich irgendjemand daran, dass 6-, 9- oder 12jährige sich plötzlich am anderen Ende der Republik wiederfinden? Ein bisschen vielleicht, aber gemeinhin werden solche Umzüge als gottgegeben und unumgänglich betrachtet, egal wie es dem Nachwuchs dabei ergeht. Wohlgemerkt mitunter auch sehr viel jüngerem Nachwuchs als im Fall Ostaszewski.

Und nun im Fußball ist alles hochdramatisch? Dabei gibt es doch Positivbeispiele genug: Samuel Koffour kam als 15jähriger nach Europa, zum FC Turin. Sein Kontinente übergreifender Sprung aus Ghana nach Deutschland dürfte ungleich größere gewesen sein, als die Umstellung, die nun Ostaszewski bevorsteht. Auch Marcel Schmelzer zog es damals als 16jährigen von Magdeburg nach Dortmund. Und Neu-Spielmacher Henrikh Mkhitaryan war gerade mal 14 Jahre alt, als es ihn auf Probe von Armenien nach Brasilien zog, wo er Monate lang in Sao Paolo die Fußballschuhe schnürte.

Klarer Fall, die Liste derer, die es nicht geschafft haben, ist ungleich länger. Aber sind das alles nun verkrachte Existenzen, deren Leben durch ihren Trip in Unordnung geraten ist? Oder vielleicht auch solche, die dadurch gelernt haben, die daran gewachsen sind?

Und dann gibt es ja auch noch die Tausenden deutscher Kinder und Jugendlicher, die Jahr für Jahr auf Schüleraustausch die Welt bereisen. Denn nur auf den ersten Blick hinkt dieser Vergleich. De facto aber müssen auch diese Jungs und Mädchen sich sogar fernab der Eltern beweisen. Müssen sich in einer fremden Sprache, einer fremden Gesellschaft zurechtfinden, neue Kontakte schließen, Freunde finden, schulisch klarkommen. Ein halbes Jahr, teilweise ein Jahr ohne Netz und doppelten Boden, einfach nur auf sich allein gestellt. Und eben ohne die mitgereiste Familie.

Sagen wir es doch, wie es ist: Letztlich ist es eine Frage der individuellen Persönlichkeit, ob Umzug, Schüleraustausch oder der Wechsel zu einem Profiverein im Ausland ein Problem darstellt oder eben nicht.

Ja, natürlich: Das Ganze hat auch ein G'schmäckle. Liest man, dass gleich die gesamte Familie Mateusz Ostaszewski begleitet, scheint dies nur auf den ersten Blick eine wohlige Nestwärme zu sein, auf die der Spieler auch in Dortmund nicht zu verzichten braucht. Auf den zweiten Blick hin stellen sich einem dann schon ein paar Fragen mehr: Setzt die Familie etwas zu sehr ihre Hoffnungen auf den Sprößling und diesen damit unter Druck? Erhöhen mögliche Eingewöhnungsprobleme der Eltern nicht vielleicht sogar die Hürde für ihren Sohn, die es zu überspringen gilt? Vorm geistigen Auge meint man ja schon die vielfach bemühten Tennis-Eltern zu sehen, die aus dem Nachwuchs unbedingt den nächsten Boris Becker oder die nächste Steffi Graf formen wollen.

Doch tut man hier den Eltern nicht Unrecht bei der Beurteilung per Ferndiagnose und in Unkenntnis der Familienverhältnisse? Und tut man nicht auch dem Jungen Unrecht, wenn man unterstellt, er stünde wahlweise unter dem Druck der ehrgeizigen Eltern oder könne andererseits gar nicht einschätzen, was alles auf ihn wartet und auf ihm lastet? Vielleicht ist Mateusz Ostaszewski am Ende ja ein verdammt besonnener und erwachsener 15jähriger und seine Eltern sind treusorgend wie nur irgendwas?

Fakt ist doch: Mateusz Ostaszewski und seine Familie gehen zwar ein hohes Risiko ein. Die Wahrscheinlichkeit, sich als Talent in einem Bundesligaverein durchzusetzen – und noch dazu beim BVB – ist geringer, als jene, bei dem Versuch zu scheitern. Und natürlich kann niemand – und schon gar nicht von außen – sicher vorhersagen, wie Ostaszewski und sein Familienumfeld ein solches Scheitern verkraften würden. Ist der Junge mental stark genug für diese Herausforderung?

Aber wer, wenn nicht die Eltern des Jungen - und in Kombination mit ihnen auch die Verantwortlichen des BVB – sollten eher befähigt sein, dies zu beurteilen? Wer kennt den Jungen besser als sein Vater und seine Mutter?

Und letztlich ist auch klar: Die Herausforderung zu scheuen aus Angst vor dem Risiko, das dürfte genau jene Charaktereigenschaft sein, mit der man es ziemlich sicher nie zum Fußballprofi bringt.

Arne/Sascha, 19.09.2013

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